: Mehr Drama als Operette
Der Bilderforscher Gerhard Paul beleuchtet so vielseitig wie spannend die Tage des „Sonderbereichs Mürwik“ im Mai 1945. In seinem Buch über das absurde Ende des „Dritten Reichs“ schöpft er aus einem reichen Fundus an Dokumenten und Zeitzeugenberichten, analysiert mediale Inszenierungen und deckt auf, wie die Nazi-Elite im Sonderbereich agierte

Von Frank Keil
Von heldenhaftem Ringen ist die Rede. Davon, dass man einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen sei. Ein Übertragungswagen steht im Innenhof der Flensburger Postdirektion. Gesendet wird von hier der letzte Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht. Es ist der 9. Mai 1945, kurz nach 20 Uhr.
Wir wechseln auf die östliche Fördeseite, in den Stadtteil Mürwik. Die britischen Streitkräfte sind in Flensburg eingerückt und sind dabei, die nördlichste Stadt Deutschlands zu übernehmen. Zugleich hat sich Großadmiral Karl Dönitz, in Berlin noch von Adolf Hitler selbst zum Nachfolger bestimmt, mit seinem Gefolge nun in der Marine-Sportschule eingerichtet: Im Sonderbezirk Mürwik ist seine geschäftsführende Reichsregierung im Amt, geduldet von den Briten, während in Karlshorst bei Berlin, in Reims in Nordfrankreich, in der Lüneburger Heide die Teilkapitulationen des deutschen Heeres unterzeichnet werden.
Der Tag beginnt mit der Kabinettssitzung. Die neuernannten Minister berichten. Als der letzte Wehrmachtsbericht versendet ist und Musik in die neue Zeit führen soll, hat der gerade zuständige britische Offizier nur eine Maßgabe: nichts von Wagner!
Gerhard Paul, „Mai 1945: Das absurde Ende des ‚Dritten Reiches‘“. Herder Verlag, Freiburg 2025, 336 S., 28 Euro; E-Book 21,99 Euro. Online-Präsentation heute, 23. 4., 19 Uhr. Anmeldung auf shop.freiheit.org erforderlich
Gerhard Paul, Jahrgang 1951, schöpft in seinem Buch über das absurde Ende des Dritten Reichs mit vollen Händen aus dem Fundus: Lange als Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Flensburger Universität tätig und Begründer der Bildgeschichtsschreibung, ist er ein mehr als guter Kenner der Dokumente und Akten jener Jahre und Tage. Außerdem ist er über die Zeit auch ein Flensburger Bürger geworden. Dabei hat er offensichtlich ein feines Gespür für die untergründigen Strömungen entwickelt, die aus dem Dritten Reich in die Nachkriegsrepublik sickerten. Und er hat Zeitzeugen kennengelernt: ehemalige U-Bootfahrer, Radioleute, Flensburger, die damals dabei gewesen sind.
Auch geografisch weitet Paul immer wieder den Blick. Er bezieht das Geschehen in der Geltinger Bucht mit ein, wo die Kriegsmarine sich dann, anders als befohlen, nicht selbst versenkt. Und er schildert, wie in Lüneburg Heinrich Himmler als Heinrich Hirzinger verhaftet wird, woraufhin der sich mit Zyankali umbringt. Sein Leichnam ist für Film und Foto aus allen möglichen Blickwinkeln dokumentiert worden. Nebenbei macht Paul mit seinem Buch begreiflich, dass geschichtliche Ereignisse oft erst im Lichte ihrer medialen Inszenierung zu entschlüsseln sind.
So absurd das Geschehen auf wenigen Flensburger Quadratkilometern zunächst wirken mag, ob es sich um ein Drama handelt oder eine schlechte Operette, ist eine seiner Fragen. Geht man mit Paul ins Detail, erfährt man, dass Dönitz und die Seinen die ihnen verbliebenen reichsdeutschen Tage durchaus zu nutzen wissen: Sie arbeiten unter Hochdruck am Mythos einer zwar militärisch geschlagenen, aber moralisch ehrenhaften Armee, die sich nichts hat zu Schulden kommen lassen; und besonders fleckenlos schneidet dabei die Marine ab.
So wird von Kapitel zu Kapitel mehr als deutlich: Das militärische Ende des NS-Staats, das ‚Schweigen der Waffen‘ wie es mit einem gewissen, bis heute gültigen Pathos benannt wird, als sei damit alles gut, bedeutet eben noch lange nicht das Ende der Nazi-Diktatur. Mit brachialen Folgen: Während die britischen Streitkräfte den Zustrom der über Dänemark zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten zu regulieren versuchen, arbeiten im Sonderbereich die Marinegerichte unbarmherzig weiter. Sie spüren angebliche Deserteure auf und lassen sie ermorden. Zugleich ist Mürwik eine Art Abklingbecken für manche aus der Nazi-Elite, die hier Station machen, um nun unterzutauchen.
Am 23. Mai – dass auf den Tag genau vier Jahre später das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wird, wirkt wie eine seltsame Laune der Geschichte – hat die britische Militärverwaltung genug von Dönitz’Treiben. Weil der eingeladene internationale Presseandrang groß ist, es schließlich an möglichen ikonischen Bildern der deutschen Niederlage mit ein bisschen Action fehlt, wird dieses medial entsprechend groß inszeniert: Mehrmals muss Dönitz mit seinem engeren Gefolge antreten, um sich verhaften und durchsuchen zu lassen. Er selbst hat sich vor Ort eigens für diesen Anlass eine neue Uniform schneidern lassen. Vor der Mürwiker Sportschule drehen derweil die jungen Marinerekruten mit den zurückgelassenen Pkw mit Vollgas ihre Runden. Was sollen sie jetzt bloß tun? Wer sagt ihnen, wo es langgeht?
Gerhard Paul ist ein kundiger Didaktiker, der beeindruckend gut zu erzählen weiß. Und was ist da nicht alles in kurzer Zeit auf kleinstem Raum passiert! Wer war da nicht alles vor Ort! Wir erfahren, welche Rolle der spätere Suhrkamp-Hero Siegfried Unseld in jenen Tagen spielte. Und wir verfolgen den Lebensweg der begeisterten jungen Fliegerin Beate Uhse in diesem wichtigen, hintergründigen, aber auch gewitzten Buch.
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