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Buch über Kindheit in der DDRErinnerung, gespiegelt im Normmaß

Wenke Seemann geht in ihrem Buch „Utopie auf Platte“ zurück in die Großsiedlung ihrer Rostocker Kindheit. Sie sucht mit der Postmoderne die DDR-Moderne.

Symmetrisches Gleichheits-und Glücksversprechen: Gezeichnete Fassadenskizze Foto: Wenke Seemann

Was bedeutet eigentlich die von der AfD doppelzüngig beschworene „DDR 2.0“, mehr als 35 Jahre nach dem Mauerfall? Und wie gesichert ist die Erinnerung an die BRD 1.0? Überlagern sich da nicht immer nur Fragmente persönlicher Erinnerung mit diversen Fremderzählungen zu Halbwissen?

Die Künstlerin und Sozialwissenschaftlerin Wenke Seemann unternimmt in ihrem Buch „Utopie auf Platte“ nun den Versuch, ein Stück DDR-Vergangenheit zu rekonstruieren. „Obwohl Lichtenhagen ein zentraler Ort meiner Familiengeschichte ist“, schreibt sie darin, „ist mein Verhältnis zu diesem Stadtteil immer ambivalent geblieben. Vielleicht, weil (…) das Pogrom 1992 für mich stellvertretend all die Gründe verkörpert, aus denen ich nach dem Abitur nur noch wegwollte aus dem Rostocker Nordwesten“. Wie ihr Soziologiekollege Steffen Mau ist auch Wenke Seemann in Rostocker Großwohnsiedlungen aufgewachsen – in Lichtenhagen und Groß Klein, in zwei von fünf Neubaugebieten, die zwischen 1962 und 1984 für mehr als 100.000 Menschen entstanden. Beim Mauerfall war Wenke Seemann 11 Jahre alt. Davor wurde in diesen Neubaugebieten die begehrte Shanty-Jeans produziert, danach herrschten dort Lonsdale-Shirts, Bomberjacken und die höchste „Grundsicherungsbezugsquote“ von Rostock.

Die Schlafstätten der Arbeitenden waren zu Wohnfallen der Arbeitslosen geworden. Und eine Architektur, die einmal der Solidarität unter ihren Be­woh­ne­r*in­nen gewidmet war, galt dem rassistischen Ressentiment. „Es war die Zeit, als das Wort Neubau durch Platte ersetzt wurde“, schreibt Annett Gröschner in ihrem Textbeitrag zum Buch. Heute ist die Wohnsiedlung aus Seemans Kindheit wieder voll vermietet, zudem diverser und jünger.

Geist von Aufbruch und Erneuerung

Wenke Seemann Buch

Wenke Seemann: „Utopie auf Platte“. Mit Texten von Franziska Schmidt und Annett Gröschner. Bierke Verlag Berlin, 154 Seiten, 36 Euro.

Im Nachlass ihres Vaters, der als Werbefotograf beim VEB Schiffscommerz arbeitete, fand Wenke Seemann in zehn Umzugskartons mit Fotoabzügen und -negativen seine Bilddokumentation über die Entstehung der Rostocker Großsiedlungen. „In diesen Bildern habe ich zum ersten Mal etwas gesehen, das ich zuvor nie mit ostdeutschen Plattenbausiedlungen in Verbindung gebracht hatte: einen Geist von Aufbruch und Erneuerung, ein Versprechen der Moderne an die Generation meiner Eltern.“

In „Utopie auf Platte“ dekonstruriert Seemann das väterliche Bildarchiv als postmoderne Methode. Sie überblendet die erhaltenen Fotodokumente mit den eigenen, verblassten Erinnerungen, um wiederum der Moderne dieser Großsiedlungen nachzuspüren. Sie überlagert seine Bilder mit Tapetenmustern, Grundrissen, Zeichnungen, flügelaltarartig gefalteten Zeitpanoramen, persönlichen Texten. Sie zeigt großmaßstäbliche Ansichten, wie die ringförmige Anlage der Wohnblöcke, und Details wie die Fassadenornamente.

Seemann montierte aus dem väterlichen Archiv eine Art künstlerische Langzeitbeobachtung über die Großsiedlungen. Die zeigte sie 2022 bereits in der Kunsthalle Rostock; die Grafikdesignerin Sarah Thußbas überführte die Schau nun in eine Buchform.

Fernseher immer an der gleichen Stelle

Auch im Westen waren in den 60ern oder 70ern Neubausiedlungen am grünen Stadtrand beliebt. In der DDR aber war die Nivellierung der Klassenunterschiede weiter fortgeschritten, die Architektur war derart genormt, dass der Fernseher in jeder Wohnung an gleicher Stelle stehen musste. So überrascht im Buch die Aufnahme eines kleinen TV-Monitors, der plötzlich abseits davon steht.

Warum wurden die ostdeutschen Neubaugebiete mit ihrem Versprechen nach Gleichheit, Versorgung und Weitblick später so abgewertet? „Särge passten kaum durch die schmalen Treppenhäuser. Aber Tod und Einsamkeit waren immer dabei“, erinnert sich Annett Gröschner.

Der Vater hatte viel aus der Distanz geschossen, vom Balkon als Hochsitz. Auf einem abgedruckten Foto schaut die kleine Wenke noch mühsam über die Brüstung auf eine schlammige Baustelle. Vierzig Jahre später steht sie auf dem durchgepflügten Grund ihrer Kindheitsmuster.

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2 Kommentare

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  • Was soll der Quatsch mit "jeder Fernseher an der selben Stelle"?



    Aber schon das mit der Platte stößt mich auf. Im Westen sind es Hochhäuser, im Osten halt "die Platte". Qualitätsjournalismus heute....

  • Die Plattenbauten der DDR waren nicht schlechter als die Neubauten der BRD. Warum ist das jetzt eine große Sache? Weil man sich so das politische Modell der DDR - "Einheitsfront gegen den Faschismus" - schönreden will.