Umfrage über Berichterstattung zu Gaza: „Klima der Angst in Redaktionen“
Katharina Weiß hat für Reporter ohne Grenzen Journalist*innen befragt, die über Gaza berichten. Sie beobachtet Selbstzensur und Anfeindungen.

taz: Frau Weiß, Sie haben über 60 Journalist*innen zu ihrer Berichterstattung über den Krieg in Gaza und seine Folgen in Deutschland befragt. Eine Ihrer Erkenntnisse lautet, dass sich Kolleg*innen stark unter Druck gesetzt fühlen, wenn sie über das Thema berichten. Was meinen Sie damit?
Katharina Weiß: Vor allem Reporter*innen, die die israelische Kriegsführung oder die Konsequenzen des Krieges auf das gesellschaftliche Klima in Deutschland beleuchten, berichteten uns von außergewöhnlichen Belastungen von außer- wie innerhalb von Redaktionen, etwa dadurch, dass ihre Artikelvorschläge, immer wieder abgelehnt werden.
30, ist Journalistin, Kulturanthropologin und Deutschland-Expertin bei Reporter ohne Grenzen (RSF). Sie ist Co-Autorin des neuesten
.taz: Warum soll das Druck erzeugen? Im Redaktionsalltag ist es üblich, dass mehrere Themen miteinander konkurrieren und Angebote hintenüberfallen.
Weiß: Klar, das schreiben wir in unserer Zusammenfassung. Einige Erfahrungen, die uns Kolleg*innen geschildert haben, sind nicht ungewöhnlich. Auffallend ist aber die Häufung, in der auch sehr erfahrene Reporter*innen berichten, mit ihren Vorschlägen zum Krieg in Gaza nicht durchzudringen. Manche sprechen von Doppelstandards oder davon, dass journalistische Praktiken über Bord geworfen wurden, wenn es um den Umgang mit palästinensischen Quellen ging. Migrantische Kolleg*innen haben von rassistischen Vorfällen berichtet – dass sie als Hamas-Freund*innen bezeichnet wurden, obwohl sie nur versucht hätten, einen konstruktiven Vorschlag zu machen, wie die Berichterstattung ausgewogener werden kann.
taz: Wie kann man sich solche Auseinandersetzungen in den Redaktionen vorstellen?
Weiß: Es geht etwa um etablierte Kolleg*innen, die ein weites Netzwerk mit palästinensischen Kontakten haben. In der Redaktion wird dann häufig die Befürchtung geäußert, ob die Reporter*innen garantieren können, dass bei ihren Gesprächspartner*innen keine Hamas-Nähe besteht. Die Stimmen von vor Ort werden dann auf Herz und Nieren überprüft, so gut es eben möglich ist, weil der Gazastreifen für die internationale Presse abgeriegelt ist. Ganz häufig wird dann entweder aus Unwissenheit in der Redaktion oder aus Angst vor extremen Social-Media-Reaktionen entschieden, palästinensische Perspektiven nicht miteinzubeziehen.
taz: Aber es wäre ja schon wichtig zu wissen, wenn die befragten Stimmen Verbindungen zu der Hamas haben.
Weiß: Klar, aber nochmal: Es geht um gestandene Kolleg*innen, die seit Jahrzehnten im Dienst sind und die uns von einem Klima der Angst in den Redaktionen berichtet haben. Das muss man ernst nehmen. Sie klagten über endlose Abnahmeschleifen ihrer Texte, die groteske Züge angenommen hätten. Sie berichteten, dass sie in ihren Karrieren bei keinem Thema so eine Dauerprüfung ihrer Beiträge erlebt hätten. Oder dass sie etwa bei Quellen aus dem Libanon, aus Sudan oder aus mexikanischen Drogenkartellen den Check, der bei Palästinenser*innen verlangt wurde, niemals hätten vorlegen können. Fast alle Befragten äußerten, dass die Berichterstattung über den Krieg in Gaza das sensibelste Thema sei, zu dem sie je journalistisch gearbeitet hätten.
taz: Sie betonen, dass Sie keine wissenschaftliche Studie vorgelegt haben, sondern eine Recherche. Wie sind Sie in Ihrer Umfrage vorgegangen?
Weiß: Wir haben nicht die finanziellen Mittel, eine groß angelegte Studie aufzusetzen. Ab Ende 2023 haben wir Hinweise von Journalist*innen bekommen, die sich mit der Berichterstattung zu Gaza und den Diskussionen in ihren Redaktionen unwohl gefühlt haben. Wir wollten der Sache nachgehen, und haben begonnen, Journalist*innen, die zu dem Thema arbeiten, direkt anzuschreiben. Uns war eine Gewichtung sehr wichtig: Kolleg*innen bei den öffentlich-rechtlichen Medien zu finden, bei den großen Privatsendern, Lokaljournalisten sowie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern, Frauen, migrantisch gelesenen und nicht migrantischen Personen herzustellen. Wir haben Kolleg*innen einbezogen, die schon sehr lange über das Thema berichten und solche, die schwerpunktmäßig über die palästinensische Zivilbevölkerung schreiben. Wir haben auch mehrere jüdische Publikationen wie die Jüdische Allgemeine angeschrieben und darum gebeten, dass die Kolleg*innen dort ihre Erfahrungen schildern.
taz: Das klingt umfassend.
Weiß: Ja. Natürlich gibt es immer Dunkelfelder, aber wir haben ein gutes Gefühl, dass wir das, was wir erzählt bekommen haben, gut abbilden konnten.
taz: Was haben die Kolleg*innen denn als Gründe genannt, warum sie etwa mit ihren Berichten zur israelischen Kriegsführung so schwer bei ihren Redaktionen durchdringen?
Weiß: Zum einen berichteten Journalist*innen von einer großen Furcht in den Redaktionen, eines israelbezogenen Antisemitismus bezichtigt zu werden. Diese Unsicherheit wurde häufig als Grund genannt, als heikel wahrgenommene Themen in der Berichterstattung auszusparen. Eine Sache, die uns bedrückt ist, dass einige Kolleg*innen sich auch durch häufige und massive Interventionen der israelischen Botschaft oder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bei Chefredaktionen unter Druck sehen. Auf der anderen Seite haben Redaktionen auch Angst davor geäußert, von propalästinensischen Aktivisten überrannt zu werden. Es gab Reporter*innen, die auf Demonstrationen erkannt und wegen ihrer Berichterstattung angesprochen wurden und die sich unter Druck gesetzt gefühlt haben.
taz: Auch bei der taz haben wir Kolleg*innen, die in Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung über den Krieg in Gaza angefeindet und aktuell wie im Fall von Nicholas Potter auch massiv bedroht werden.
Weiß: Die Kampagne gegen Potter ist eine schockierende Grenzüberschreitung und als Reporter ohne Grenzen fordern wir die zuständigen Behörden auf, die Urheber der Gewaltandrohungen zügig zu ermitteln. Egal, ob man wie Potter viel über Antisemitismus schreibt oder sich in anderer Form mit der Region Nahost beschäftigt: Unsere Umfrage hat ergeben, dass viele Kolleg*innen oftmals sogar für ein und denselben Artikel von zwei Seiten mit persönlichen Beleidigungen überzogen würden; eine stark Palästina-solidarische Bubble könne es nicht ertragen, jüdische Perspektiven zu hören oder auch nur den Begriff des Antisemitismus zu lesen. Wohingegen die Israel-solidarische Bubble nicht damit umgehen könne, wenn zum Beispiel der Blick auf die israelische Besatzungspolitik gelenkt würde.
taz: In Ihrem Bericht schreiben Sie auch, dass Journalist*innen, die in ihrer Berichterstattung etwa auf die Einhaltung des Völkerrechts drängten, sich zur „Selbstzensur“ genötigt fühlten. Aber es gibt doch durchaus kritische Berichterstattung über das israelische Militär.
Weiß: Wir beurteilen als Reporter ohne Grenzen überhaupt nicht, ob die Berichterstattung ausgewogen war, damit haben sich andere schon viel mehr beschäftigt. Medienkritik gehört auch nicht zu unserem Mandat. Wir sagen auch nicht, dass es keine Israel-kritische Berichterstattung in Deutschland gibt.
taz: Was meinen Sie dann mit Selbstzensur?
Weiß: Der Begriff kommt nicht von uns, viele Journalist*innen haben ihn in den Befragungen so geäußert. Kolleg*innen erzählten uns, dass sie Themen, die etwa mit einer Kritik der israelischen Regierung oder dem Militär verbunden sind, bewusst vermeiden. Manche befürchteten sogar einen Jobverlust. Andere Sorgen betrafen langwierige Quellenchecks oder Änderungen an Texten, die nicht mit den Autor*innen abgesprochen werden. Auch aus Sorge vor so einer redaktionellen Praxis äußerten Kolleg*innen die Angst, ihre Quellen zu vergraulen. Deshalb zogen sie für sich den Schluss, dieser oder jener Redaktion keine Themenvorschläge zu unterbreiten, was sie als Selbstzensur erlebten.
taz: Was können Redaktionen tun, um andere Zugänge zu ermöglichen? Es muss doch darum gehen, in der Nahost-Berichterstattung den Blick zu weiten, und dafür ein professionelleres und konstruktiveres Arbeitsklima zu schaffen.
Weiß: Speziell auf Nahost bezogen wünschen sich viele Kolleg*innen, dass es in ihren Redaktionen zu einer internen Aufarbeitung kommt, mit dem Ziel, dieselben Fehler nicht bei künftigen so aufgeladenen Fragen zu wiederholen. Das Stichwort Diversität wurde hier ganz häufig genannt, also mehr Stimmen einzubeziehen, die fremdsprachige Medien lesen, oder bei dem Thema eine nicht deutsche Sozialisation haben. Viele Kolleg*innen wünschten sich in unserer Befragung auch eine stärkere Solidarisierung untereinander, sowohl innerhalb von Redaktionen als auch in Fällen, in denen Medienschaffende von einschlägigen Publikationen an den Pranger gestellt werden.
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