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Blick auf die Bucht von Haifa. Der Hafen und die Berghänge des Karmel prägen die Stadt Foto: Ronen Zvulun/reuters

Jüdisch-arabisches ZusammenlebenHaifa ist ein Versprechen

In der Küstenstadt leben jüdische und arabische Israelis friedlicher zusammen als anderswo. Doch seit dem 7. Oktober wachsen auch hier die Spannungen.

D er jüdische Philosoph Omri Boehm hat vor ein paar Jahren einen kühnen Plan skizziert. Aus Israel und Palästina solle ein binationaler Staat werden, in dem Juden und Palästinenser die gleichen Rechte haben. Das ist nicht realistisch – Mehrheiten dafür sind kaum vorstellbar –, gedacht war die Idee indes als Antwort auf das Scheitern der Zweistaatenlösung. Nach deren Ende gibt es, glaubt Boehm, nur noch die Logik des Nullsummenspiels: Wir oder sie. Die Idee eines gemeinsamen Staates für Juden und Araber hat Boehm „Republik Haifa“ getauft.

Warum Haifa? Die Stadt im Norden hat den Ruf, dass dort jüdische und arabische Bürger Israels ziviler, weniger gewalttätig, halbwegs gleichberechtigt zusammenleben. Vieles ist in Haifa anders. 40 Prozent der Jobs in der Stadtverwaltung haben arabische Israelis inne, obwohl sie nur 11 Prozent der knapp 300.000 Menschen umfassenden Stadtbevölkerung ausmachen. In Haifa existiert eine arabische Mittelschicht. Manche sagen, die Stadt sei „das Tel Aviv für Araber“.

Chadash, eine linkssozialistische jüdisch-arabische Partei, ist in der Hafenstadt traditionell stark. Die letzten Bürgermeisterwahlen gewann, gegen den massiven Rechtstrend in Israel, der gemäßigte Politiker Yona Yahav. Der sagte: „Gott sei Dank ist Haifa keine heilige Stadt.“

Taugt Haifa als Metapher für eine andere Sicht auf den Konflikt, der, wie der extrem blutige, brutal geführte Krieg Israels in Gaza zeigt, immer mehr Gewalt, Tod, Zerstörung, Hass gebiert? Ist Haifa als Metapher eine von verzweifelter Hoffnung angetriebene Projektion? Oder beides? Auf der Suche nach Antworten haben wir drei Menschen getroffen, eine jüdische und zwei arabische Israelis.

Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch

Für Fathi Marshood war Haifa ein Versprechen. Als er 1992 in die Stadt kam, stand er als junger palästinensischer Aktivist bei israelischen Unternehmen auf der schwarzen Liste. In Haifa fand Marshood einen Job bei Shatil, einer angesehenen linken NGO, die zivilgesellschaftliche Projekte fördert, er leitete deren Büro in der Stadt. Haifa sei „sowieso der beste Ort für Palästinenser in Israel“, sagt er. Weil es liberaler und säkularer ist als Jerusalem.

Marshood sitzt im Büro seiner Organisation „Social Development Committee“, deren Direktor er heute ist. Sie unterstützt Palästinenser in Haifa. Man kümmert sich um Kinderbetreuung und rettet zerfallende Gebäude in alten arabischen Vierteln. Im Bücherregal steht ein Band „Act4Change“, ein Programm, das Jugendlichen sozialen Aufstieg ermöglichen soll.

Kurz nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 war Fathi Marshood, der perfekt Hebräisch spricht, mit seiner Enkelin im Supermarkt neben seinem Zuhause einkaufen. Er sprach mit ihr Arabisch. Die Leute haben uns angestarrt wie Feinde, sagt er

Die Schulen für arabische Israelis sind schlechter ausgestattet. Auch im liberalen Haifa gilt: Armut ist meist arabisch, Wohlstand meist jüdisch. Das „Social Development Committee“ versucht die drastische, strukturelle Benachteiligung der arabischen Israelis ein wenig auszugleichen.

„Los, bewaffnet euch!“

Marshood, kariertes Hemd, Jeans, formuliert bedächtig, zurückhaltend. Er ist selbst ein Beispiel für den sozialen Aufstieg, der in der Stadt auch für arabische Bürger Israels möglich ist. Armut und Reichtum sind in Haifa topograpisch sichtbar. Unten am Hafen leben Ärmere, oben, auf dem Bergrücken des Karmel, Wohlhabendere. Marshood wohnt in einem für Haifa typischen Hochhaus, 18 Stockwerke hoch, auf dem Karmel. Gut situiert. Überwiegend jüdische Nachbarschaft.

Marshood lebte gerne dort. Bis zum 7. Oktober, 2023. Dem Tag, der alles änderte.

Fathi Marshood Marshood leitet das „Social Development Committee“. Es unterstützt Palästinenser in Haifa Foto: Stefan Reinecke

Kurz nach dem Massaker, das die Hamas im Süden Israels anrichtete, war er, der perfekt Hebräisch spricht, mit seiner Enkelin im Supermarkt neben seinem Hochhaus einkaufen. Er sprach mit ihr Arabisch. „Die Leute haben uns angestarrt wie Feinde“, sagt er. Als er sein Auto wie immer auf seinem gemieteten Parkplatz vor dem Haus abstellen wollte, beschied ihm eine schwer bewaffnete Bürgerwehr, das sei nicht mehr sein Parkplatz. „Wir entscheiden, wo du parkst“, sagten sie. Die Bewaffneten waren seine jüdische Nachbarn. Mar­shood überlegte kurz, ob er die Polizei holt. Und verwarf die Idee: „Die Polizei hätte mich verhaftet, nicht die Bürgerwehr.“

Nach dem 7. Oktober gab der rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir die Losung aus: „Los, bewaffnet euch!“ Er ließ Waffen an Zivilisten verteilen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte, man werde nicht nur die Hamas bekämpfen, sondern auch die inneren Feinde in Israel.

Eine Initiative stoppte rechte Provokationen

In Haifa gründeten am 7. Oktober mehrere Aktivisten, darunter auch Marshood, die Initiative „Keeping Haifa Shared“. Ihr Ziel: Haifa vor den rechten Bürgerwehren schützen. Die Gefahr, dass auch die Stadt vom Hass angesteckt wird – sie war real. Die Gruppe beobachtete nach dem 7. Oktober, was sich in rechten Chats tat. Rechtsradikale streuten Fake News, um das Zusammenleben von Juden und Palästinensern in Haifa zu zerstören. Mal wurde behauptet, eine arabische Israelin sei Hamas-Sympathisantin, mal hieß es, eine jüdische Soldatin sei in einem arabischen Geschäft nicht bedient worden. Flächenbrände entstehen aus kleinen Feuern.

Es gelang, die meisten rechten Provokationen zu stoppen. Auch mithilfe der Stadtverwaltung, in der es eigens eine Abteilung gibt, die das Zusammenleben managen soll. „Wir wollten“, sagt eine linke Aktivistin, „die Koexistenz in Haifa retten.“ Das habe funktioniert, weil „sogar manche Rechte hier begriffen haben, dass Gewalt nur mehr Gewalt erzeugt“. Weil viele etwas zu verlieren haben.

40 Prozent der Jobs in Haifas Stadtverwaltung haben arabische Israelis inne, dabei stellen sie nur 11 Prozent der Bevölkerung

Haifa bewegt sich jetzt in ruhigerem Fahrwasser. Mar­shood hat seinen Parkplatz wieder. Die hysterische Angst ist verflogen. Aber es ist nicht mehr wie zuvor. Marshood wird vielleicht in ein palästinensisch geprägtes Mittelschichtsviertel umziehen. Die Normalität, die er für einen halbwegs stabilen Grund hielt, hat Risse bekommen. Die Risse gab es schon vorher, spätestens seit Netanjahu mit rechtsradikalen Siedlern regiert und der Rechtsextreme Ben-Gvir Innenminister wurde. Aber dass nach dem 7. Oktober auch in Haifa Hass und Rache überhand nehmen würden, damit hatte Marshood nicht gerechnet. „Es war ein Schock“, sagt er.

Die Ruhe in Haifa hat auch einen Preis. Wer den Krieg in Gaza anprangert, muss mit Repression rechnen. Palästinenser, so Marshood, haben wegen kritischer Facebook-Posts ihre Jobs verloren. „Es reichte“, so Marshood, „schon ein Wort, das als Unterstützung für Gaza wahrgenommen wurde, um inhaftiert zu werden“.

Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht

Die Universität Haifa, hoch über der Stadt thronend, ist ein Symbol arabisch-jüdischer Koexistenz. Rund 20.000 studieren hier, fast die Hälfte sind israelische Palästinenser. Rolly Rosen schlendert durch die Gänge der Universität. Sie gibt heute ein Seminar über Mixed Cities, Städte wie Haifa, in denen Juden und Araber zusammenleben. Sie hat ihre Doktorarbeit über das Thema geschrieben und sich mit Städten wie Belfast beschäftigt, in denen bürgerkriegsähnliche Konflikte neben einer gemeinsam gelebten Moderne existieren. Wie Fathi Mar­shood hat auch Rosen früher bei der NGO Shatil gearbeitet und dort das Program „Haifa Shared City“ geleitet. „Dass Fathi auf der schwarzen Liste stand, war bei Shatil eher ein Grund, ihn einzustellen“, sagt sie und lacht. Mar­shood war Leiter von Shatil. Ein palästinensischer Chef – das ist in Israel möglich, aber selten.

Rolly Rosen hat die Konflikte in Haifa erforscht – zum Beispiel im Mai 2021. Damals hatten jüdische Rechtsradikale den Tempelberg in Jerusalem zu stürmen versucht. Als Reaktion feuerte die Hamas Raketen auf Israel, die israelische Regierung ließ den Gaza­streifen heftig bombardieren. Aus Protest gegen die Angriffe auf Gaza hissten vermummte junge arabische Israelis im Mai 2021 mitten in Haifa die palästinensische Fahne, fackelten Autos ab und randalierten. Die jüdische Rechte mobilisierte – und griff arabische Wohnungen mit Steinen an. Angst herrschte. Arabische Familien schraubten ihre Klingelschilder ab. Die Stadt wurde vom Sog der Eskalation erfasst.

Rolly Rosen gibt an der Universität Haifa Seminare über „Mixed Cities“, Städte wie Haifa, in denen Juden und Araber zusammenleben Foto: Stefan Reinecke

Für ihre Studie über den Mai 2021 in Haifa hat Rosen 45 Interviews geführt. Dass der Konflikt damals nicht explodierte, habe sich der Zivilgesellschaft verdankt, meint sie. Es gab Gesten der Solidarität über die ethnisch-nationalen Grenzen hinweg. Jüdische und arabische Geschäftsleute und Krankenhäuser hängten Transparente auf: „Wir bleiben zusammen.“ Viele, erzählt Rosen, wehrten sich gegen die damals kursierende Idee, Haifa in jüdische und arabische Stadtteile aufzuteilen und ethnische Grenzen zu ziehen. Auch die Stadtverwaltung zog aus dem Mai 2021 Konsequenzen und installierte eine Moderationsstelle für jüdische-palästinensische Konflikte. Das Krisenmanagement der Zivilgesellschaft nach dem 7. Oktober war nur so effektiv, „weil man aus dem Mai 2021 gelernt hatte“, sagt Rosen.

Die Nakba war in Haifa besonders extrem

Doch was macht Haifa besonders? Bis 1948 waren viele Städte in Palästina entweder arabisch oder jüdisch dominiert. Haifa nicht. Die Anteile der jüdischen und arabischen Bevölkerung waren hier gleich groß. Es gab mal einen jüdischen, mal einen arabischen Bürgermeister. Die Tatsache, dass die Stadt keine religiöse Konfliktgeschichte hatte, machte manches leichter.

Dieses Zusammenleben endete am 22. April 1948. An diesem Tag flohen fast 70.000 arabische Bürger aus Angst vor der Gewalt jüdischer Militärs, die vom Karmelgebirge aus die arabischen Stadtteile beschossen. Nur ein paar Tausend blieben. Die Nakba, die katastrophale Vertreibung und Flucht der Araber aus Israel, war in Haifa besonders extrem. Jeder zehnte vertriebene Palästinenser kam 1948 aus Haifa. Die meisten flohen in den angrenzenden Libanon – und nahmen ihre Schlüssel mit, in der Hoffnung, bald zurückzukehren. Um das zu verhindern, ordnete David Ben-Gurion im Juli 1948 an, die Wohnviertel der geflohenen Araber abzureißen. Die arabische Altstadt wurde damals zerstört, 227 Häuser. Nur Kirchen und Moscheen aus osmanischer Zeit blieben verschont.

Eine dieser Moscheen, nah am Hafen gelegen, existiert noch heute. Vor der Moschee steht ein markanter Turm mit einer Uhr, damals ein Zeichen, dass die Osmanen in der Moderne ankommen wollten. Trotzdem muss man dieses Ensemble suchen. Es liegt eingeklemmt zwischen zwei dröhnend lauten Hauptverkehrsadern, davor ein gigantischer Parkplatz, dahinter ein Bürohochhaus, das die Moschee um Längen überragt. Der bauchige Wolkenkratzer mit Zacken in der Spitze sieht aus wie eine Rakete, er prägt die Skyline der Stadt. Das Regierungsgebäude scheint mit seiner Höhe und Massigkeit den arabischen Uhrturm zu erdrücken. Haifa ist eine ansehnliche Stadt, dies jedoch ein selten unwirtlicher Ort. Er wirkt wie eine nachträgliche Überschreibung der arabischen Geschichte, wie eine architektonische Auslöschung.

Nach Krawallen im Jahr 2021 in Haifa hängten jüdische und arabische Geschäftsleute Transparente auf: Wir bleiben zusammen

Die Frage der Geiselrettung spaltet die Gesellschaft

Die Katastrophe 1948, die Koexistenz 2025 – passt das zusammen? Rosen glaubt, dass dies beides Seiten derselben Medaille sind. Die Vertreibung 1948 erscheint als eine Art paradoxer Voraussetzung für das heutige Mit­ein­ander. Denn das habe für die jüdische Seite eine unausgesprochene Bedingung. Es funktioniere nur, „weil die jüdische Mehrheit keine Angst vor der Minderheit hat“. Anders gesagt: Weil das Machtgefälle aus jüdischer Sicht beruhigend hoch und massiv befestigt ist.

Es gibt aber auch Beziehungen, die nicht durch Macht definiert sind. Rolly Rosen und Fathi Marshood teilen nicht nur eine lange gemeinsame politische Erfahrung. Sie kennen auch die Fluchtgeschichten ihrer Familien. Mar­shoods Verwandtschaft wurde 1948 in den Libanon vertrieben, Rosens Eltern flohen vor den Nazis.

Um einen Ausweg aus der Drohung der Vernichtung des je Anderen zu finden, schreibt Omri Boehm in seinem Buch „Modell Haifa“, müsse man den „binationalen Zionismus“ wieder beleben, der einst auch von jüdischen Intellektuellen als Möglichkeit gedacht wurde. Dazu bräuchte es eine „Erinnerungspolitik des Vergessens“. Vergessen könne man nur, wenn man sich vorher erinnert und die Geschichte ins Recht setzt. Dazu gehöre auch die Anerkennung der Nakba und des Rechts der Palästinenser, zurückzukehren.

So radikale Entwürfe sind fern von dem, was möglich ist. Die israelische Mehrheit steht im Bann des 7. Oktobers. Benjamin Netanjahu setzt auf die Bombardierung Gazas, die Opposition will mit der Hamas verhandeln, um die Geiseln zu retten, und fordert ein Ende des Krieges. Die Frage der Geiselrettung und die politische Zukunft Nethanjahus spaltet die Gesellschaft – nicht der Krieg in Gaza, nicht die Vertreibung von Zehntausenden Palästinensern im Westjordanland, die manche Gazaisierung nennen. Gibt es noch realpolitische Möglichkeiten, die sowohl die jüdische als auch palästinensische Bevölkerung in den Blick nehmen?

Wie eingefroren saß sie vor dem Fernseher

Aida Touma-Sliman schaut aus dem Fenster ihres Wintergartens auf die gesamte Bucht. Die Sonne geht gerade unter. Im Norden leuchtet die Kleinstadt Akko, die sich an eine von Kreuzrittern gegründete Festung an der Spitze des Kaps anschmiegt. Im Süden glitzern die Lichter von Haifa mit seinen Wohnvierteln an den Berghängen. Unten die Hafendocks. Die Briten nutzten den Hafen vor 1948 als Umschlagplatz für Erdöl aus dem Irak. Damals wurde Haifa, was es heute ist: die Metropole im Norden.

Touma-Sliman, palästinensische Abgeordnete der Knesset, lebt noch nicht lange hier im neunten Stock eines neuen Hochhauses. Ihre Wohnung im Herzen von Akko hat sie nach dem Tod ihres Mannes aufgegeben. Zu viele Erinnerungen, sagt sie.

Aida Touma-Sliman in Akko, wo sie früher lebte. Die Feministin sitzt für das linke Bündnis Chadasch-Ta’al in der Knesset Foto: Dan Balilty/NYT/Redux/laif

Sie ist eine der bekanntesten, lautstärksten arabischen Politikerinnen in Israel. Seit zehn Jahren ist die Feministin für das linke Bündnis Chadasch-Ta’al im Parlament. Sie war die erste arabische Politikerin, die den Gleichstellungsausschuss der Knesset leitete.

Dann kam der 7. Oktober. Aida Touma-Sliman saß am Tag des Hamas-Angriffs auf den Süden Israels stundenlang wie eingefroren vor dem Fernseher. „Wie alle Israelis fragte ich mich: Wo ist die Armee?“ Jede Nachricht über Gräueltaten an Zivilisten in den Kibbuzen machte klar, dass nichts mehr sein würde wie zuvor. Sie versuchte einen Freund, einen Genossen, zu erreichen, der dort im Süden wohnte. Er nahm nicht ab. Nach Stunden kam eine SMS: „Wir sind im Safe-Room, aber wir können sie hören.“ Sie, die Hamas. „Es war eine schizophrene Situation“, sagt Touma-Sliman. Sie fürchtete um das Leben ihrer Freunde. Und hatte wie viele Palästinenser finstere Ahnungen, was kommen, welchen Gewaltorkan Israel entfesseln würde.

Egal, wie scharf sich Chadasch vom Terrorangriff der Hamas distanzierte, „es hat nie gereicht“. Sie, die laute Oppositionelle, geriet ins Fadenkreuz der israelischen Mehrheit. Politiker, die Touma-Sliman seit Jahren kannte, gingen ihr in der Knesset aus dem Weg. Die verbalen Attacken der Rechtsextremen waren so heftig, dass ihr der Knesset-Sicherheitsdienst riet, sich im Parlament nicht mehr ohne Begleitschutz zu bewegen.

Die Logik des Ausnahmezustands

Als sie eine BBC-Meldung retweetete, in der von einem möglichen Einsatz von Phosphor in Gaza die Rede war, brach ein Shitstorm über sie los. Sie wurde – wegen eines BBC-Beitrags – für Monate aus der Knesset verbannt. „Meine parlamentarische Immunität war wertlos. Linke Juden und arabische Israelis sollten zum Schweigen gebracht werden. Wir sollten einfach verschwinden.“ Es regierte die Logik des Ausnahmezustands. Freund oder Feind. Wenn sie von den vergangenen Monaten spricht, ist es, als ergäben Normalität und Ausnahmezustand ein irritierendes Gewebe voller Risse.

Die Sonne ist untergegangen. Aida Touma-Sliman erzählt stolz, nach zwei Jahren Arbeit eben ein Gesetz durchgeboxt zu haben: Im Sozialministerium wird eine Behörde zur Armutsbekämpfung eingerichtet. Das ist auch ihr Erfolg. Dafür hat die säkulare Linksfeministin mit Schas, der Partei der Ultraorthodoxen, zusammengearbeitet. Von der Behörde soll die Unterschicht profitieren. Und dazu gehören Ultraorthodoxe, die Schas wählen, und arabische Israelis, deren Interessen Chadasch vertritt. Touma-Sliman ist Realpolitikerin – in irrealen Zeiten.

In der Knesset läuft alles wieder halbwegs normal. Die Abgeordneten, die sie nach dem 7. Oktober schnitten, „lächeln mir wieder zu“, sagt Touma-Sliman. Für die jüdischen Israelis ist wieder vieles wie früher geworden. Für arabische Israelis wie sie und Fathi Mar­shood ist die Rückkehr der Normalität eine Fortsetzung ihrer schizophrenen Lage. Die Netanjahu-Regierung scheint diesen Krieg immer weiter fortsetzen zu wollen. In Gaza, sagt Touma-Sliman, „sterben unsere Leute“. Immer weiter, immer mehr.

Es ist eine Katastrophe, die sie nicht ausblenden kann, eine Katastrophe, die sie bewohnen muss. 80 Prozent der jüdischen Israelis unterstützen den Krieg in Gaza. Und sehen nur jüdisches Leid, nicht jenes, das das israelische Militär verursacht. Auch in den Anti-Netanjahu-Demonstrationen spielt der fortwährende Krieg in Gaza nur eine Nebenrolle.

Seit das israelische Militär Gaza bombardiert, seit über 500 Tagen, geht Touma-Sliman nicht mehr auf Hochzeiten, nicht mehr auf Feste. Steht kein Weihnachtsbaum in ihrer Familie an Heiligabend. Weil nichts mehr normal ist, und weil es sich für sie falsch anfühlt, so zu tun. „Nichts gilt mehr im Angesicht von Gaza. Wir müssen über alles neu nachdenken“, sagt sie ernst. Vielleicht müsse der Widerstand gegen diesen Krieg auf alte Erfahrung zurückgreifen. Auf den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Oder den antifaschistischen Widerstand gegen Mussolini. Jetzt müsse man die rechte Revolution in Israel überstehen.

„Faschisten wie Ben-Gvir wollen nicht mehr nur einen palästinensischen Staat verhindern. Sie wollen ethnische Säuberungen in Gaza und im Westjordanland“, sagt sie. Aida Touma-Sliman praktiziert täglich einen komplizierten Spagat – zwischen Realpolitik und der Erkenntnis, dass in Anbetracht des Todes 150 Kilometer im Süden alles anders ist.

Und die Republik Haifa? Ein gemeinsamer Staat? Ein Land, in dem alle die gleichen Rechte hätten, sei „ein schöner Traum“, sagt sie. Aber „derzeit illusionär“. Jetzt gehe es nicht um Theorien oder Visionen. „Was wir jetzt brauchen“, sagt sie, „ist das Ende des Leids.“

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1 Kommentar

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  • "des Rechts der Palästinenser, zurückzukehren."

    Warum? Die Leute von damals sind doch fast alle tot.

    Wenn Schlesier ein Rückkehrrecht fordern, nimmt man das auch nicht ernst, und deren Vertreibung war nur zwei Jahre früher.