
Recherche „Exporting Abortion“: Schwangerschaftsabbrüche über Grenzen hinweg
Für Schwangerschaftsabbrüche müssen Frauen oft weite Wege auf sich nehmen – wegen der politischen Lage, komplizierter Verfahren oder schlechter Betreuung.
Z wei Frauen aus Deutschland, zwei Beweggründe, ein Ziel: ein Schwangerschaftsabbruch in den Niederlanden. Die eine hat die gesetzliche Frist in Deutschland überschritten, die andere könnte den Eingriff auch hierzulande vornehmen lassen – doch in Deutschland ist der Prozess so kompliziert, dass sie den einfacheren Weg nach Holland wählt. Beide Frauen sprechen nicht im Detail über ihre Entscheidung, sondern hinterlassen anonyme Angaben in einem Fragebogen, den das Rechercheprojekt „Exporting Abortion“ verschickt hat.
„Ich bin sehr dankbar, dass es einen Ausweg für mich gab. Zum Zeitpunkt meiner Schwangerschaft habe ich mich sehr hilflos gefühlt und dachte, es gibt keine Wahl“, schreibt die Frau, die außerhalb der in Deutschland erlaubten Frist in die Niederlande reiste. Die zweite gibt lediglich an, sich im Nachhinein „sehr gut“ dabei zu fühlen. Beide sind erleichtert. Beide haben für diese Erleichterung mehr als fünf Stunden Fahrt auf sich genommen.
Fast die Hälfte aller europäischen Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland vornehmen lassen, tun das in den Niederlanden. Aus Deutschland, wo die Gesundheitsversorgung als fortschrittlich gilt, reisen jährlich mehr als 1.000 Frauen über die niederländische Grenze, um dort einen Abbruch vornehmen zu lassen.
Das ist eines der Ergebnisse von Exporting Abortion, einem internationalen Rechercheprojekt von mehr als zehn Journalist:innen. Fasst man die verfügbaren Statistiken aus den 15 untersuchten Ländern zusammen, so ist es ein sehr häufiges Phänomen, dass Menschen für einen Schwangerschaftsabbruch Landesgrenzen überqueren.
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Warum ausgerechnet die Niederlande?
Den vorliegenden Zahlen zufolge ist die Strecke Deutschland–Niederlande die am meisten genutzte. Aber sie stellt nur einen Teil der jährlichen Bewegungen dar. Im Jahr 2023 haben mindestens 7.900 ausländische Frauen in einem europäischen Land einen Abbruch vornehmen lassen, mindestens 5.800 von ihnen kamen selbst aus Europa. Aber warum gehen so viele Frauen ausgerechnet nach Holland?
Zum Teil lässt sich die besonders hohe Zahl damit erklären, dass Deutschland ein bevölkerungsreiches Land ist und direkt an die Niederlande grenzt. Aber auch die Gesetzeslage dürfte eine Rolle spielen.
In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch nur bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis möglich – und nur nach einer Pflichtberatung sowie einer dreitägigen Wartezeit zwischen der Beratung und dem Eingriff. In den Niederlanden ist der Zugang deutlich einfacher: Hier ist ein Abbruch bis zur 24. Woche erlaubt, in den meisten Kliniken werden Abbrüche bis zur 22. Woche durchgeführt.
Seit 2022 gibt es in den Niederlanden weder eine Beratungspflicht noch eine Wartezeit. Oft reicht ein einziger Tag für den Eingriff. Zwar zeigt sich noch kein klarer Trend, aber auffällig ist, dass die Zahl der deutschen Patientinnen in den Niederlanden von rund 1.250 im Jahr 2022 auf etwa 1.350 im Jahr 2023 gestiegen ist.
Der deutsche Gesetzgeber sieht für einen Schwangerschaftsabbruch eine Frist von 12 Wochen nach der Empfängnis vor.
Der Zeitpunkt der genauen Empfängnis ist nicht zu ermitteln. Daher berechnen die meisten Ärzt:innen die Frist ab dem ersten Tag der letzten Periode. Die setzt für gewöhnlich zwei Wochen vor der Befruchtung ein. Das heißt, dass ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland bis zu 14 Wochen nach dem ersten Tag der letzten Regelblutung möglich ist.
Kritik an der deutschen Versorgungslage
Wegen der deutlich längeren Frist ist Holland häufig der einzige Ausweg, wenn eine Schwangerschaft zu spät entdeckt wird. Doch Gespräche mit Ärztinnen, die sich mit der Situation an der deutsch-niederländischen Grenze auskennen, zeigen ein differenzierteres Bild. So zieht Gabie Raven, eine Ärztin aus den Niederlanden, die auch in Dortmund eine Praxis führt, den direkten Vergleich: „In den Niederlanden übernehmen spezialisierte Kliniken die meisten Abbrüche, in Deutschland meist niedergelassene Gynäkolog:innen – oft nach eigenen Regeln.“ Manche würden nur medikamentöse Abbrüche anbieten, andere nur für ihre Stammpatientinnen. „Dazu kommen volle Terminkalender, Urlaubszeiten und Feiertage“, sagt Raven.
Sie kritisiert die deutsche Versorgungslage scharf: „Nach sechs Wochen weiß eine Frau oft, dass sie schwanger ist und kein Kind will. Doch dann beginnt ein Hindernislauf. Erst muss sie eine Beratungsstelle suchen und einen Termin vereinbaren. Fehlt das Geld, geht es zur Krankenkasse. Und wenn sie schließlich eine Praxis für den Abbruch gefunden hat, gibt es entweder keine Termine – oder sie wird abgewiesen.“ Am Ende sehe Raven solche Patientinnen dann in der 17. Woche in den Niederlanden. Mit ihrer Praxis in Dortmund, die Raven 2022 eröffnet hat, will sie das ändern. Rund 800 Schwangerschaftsabbrüche führt ihr Team dort pro Jahr durch.
Thoralf Fricke, Pro Familia Bayern
Elles Garcia arbeitet als Gynäkologin in einer Klinik im niederländischen Bloemenhove und behandelt dort Patientinnen aus ganz Europa. Sie sagt: „Personen aus Deutschland sagen uns oft, dass sie das auch in Deutschland hätten machen können. Weil die Schwangerschaft jünger als 12 Wochen ist.“ Die Beratung und das Verfahren seien aber zu kompliziert. „Es gibt so viele Schritte, dass sie es vorziehen, von Anfang an hierherzukommen“.
Die Recherchen von Exporting Abortion zeigen, dass Frauen aus Deutschland auch in andere Nachbarländer ausweichen – nach Österreich zum Beispiel.
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Bayern ist Schlusslicht
Thoralf Fricke berät für den Verein Pro Familia Bayern ungewollt schwangere Frauen. Er sagt: „Für die grenznahen Regionen macht das durchaus Sinn. Bayern ist das Schlusslicht in der Versorgung. An manchen Orten haben wir gar keine Ärzte, an anderen machen sie zum Beispiel nur alle 14 Tage einen Eingriff. Wenn es zeitkritisch ist, ist Österreich manchmal schneller.“ Dass solche Versorgungsengpässe in Deutschland bestehen, hat die sogenannte ELSA-Studie im vergangenen Jahr aufgezeigt.
In Österreich ist ein Schwangerschaftsabbruch meist bis zur 14. Woche möglich, ohne externe Beratungsstellen oder Wartezeiten. Nur ein Gespräch zwischen Arzt und Patientin ist erforderlich. Österreichische Ärzte bestätigen, dass immer wieder Frauen aus Deutschland zu ihnen kommen, um auch in frühen Schwangerschaftswochen einen Abbruch vornehmen zu lassen. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt, denn die Herkunft der ungewollt Schwangeren wird in Österreich nicht erhoben.
Doch was, wenn Österreich oder die Niederlande zu weit entfernt sind und ein Abbruch im Ausland generell zu viel kostet?
Eine der größten Organisationen, die Menschen beim medikamentösen Schwangerschaftsabbruch unterstützt, ist Women on Web. Bei der kanadischen Organisation können seit 2019 auch Menschen aus Deutschland Hilfsanfragen stellen. Women on Web berichtet, dass allein in den ersten 9 Monaten 1.205 Frauen aus Deutschland Informationen zu einem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch außerhalb des formalen Gesundheitssystems angefragt haben.
Gemeint ist ein telemedizinischer Abbruch, dem eine Onlineberatung und der anschließende Versand benötigter Medikamente vorausgeht. In einer Studie wurden daraufhin über 100 E-Mails an Women on Web ausgewertet. Anhand dieser kommen die Autor:innen zu dem Schluss, dass es im formalen Sektor zahlreiche Barrieren für Schwangerschaftsabbrüche gibt. Diese verhinderten den Zugang vor allem für vulnerable Gruppen wie Menschen mit geringen finanziellen Mitteln oder Migrant:innen ohne Papiere. Der telemedizinische Weg kann der Studie zufolge aber auch aus einer Position der Selbstbestimmung heraus erfolgen, den Abbruch nach eigenen Regeln durchzuführen.
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Polen hat die strengsten Gesetze
Doch der Schwangerschaftsabbruch per Telemedizin ist in Deutschland politisch umstritten. Obwohl er in Europa und auch in Deutschland immer häufiger angeboten wird und helfen könnte, Versorgungslücken zu schließen, hat das Bundesland Bayern den telemedizinischen Abbruch ab Januar 2025 verboten. Begründet wurde das seitens der CSU und der Freien Wähler damit, dass Frauen die vorab elektronisch verschickten Ultraschallbilder fälschen könnten.
Thoralf Fricke von Pro Familia Bayern hält das für eine „böswillige Unterstellung gegenüber den Frauen und Ärzt:innen“. Er sieht das Verbot als „Symbolpolitik“, die wenig am bestehenden Problem ändern wird. Frauen im Rest Deutschlands können weiterhin telemedizinische Unterstützung erhalten, in Bayern wird der Zugang erschwert. Doch trotz der Hürden, die es hierzulande beim Thema Schwangerschaftsabbruch gibt, scheint Deutschland für Menschen, zum Beispiel aus Polen, immer noch ein Zufluchtsort zu sein.
Polen hat die strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Unter der PiS-Regierung (2015–2023) wurden Schwangerschaftsabbrüche nahezu komplett untersagt, erlaubt sind sie nur bei Vergewaltigung, Inzest oder Lebensgefahr für die Frauen. Wer jenseits dessen einen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht – medizinisches Personal, Partner oder Aktivist:innen –, wird bestraft. Aus Angst verweigern Ärzt:innen selbst legale Abbrüche. Reformversuche der aktuellen liberalen Regierung scheiterten bislang.
Maria Kubisa, eine Ärztin aus dem brandenburgischen Prenzlau, die eine zweite Praxis im polnischen Stettin betreibt, erlebt wegen der restriktiven gesetzlichen Lage in Polen immer wieder dramatische Fälle in ihrer deutschen Praxis: „Es gibt sogenannte extrauterine Schwangerschaften, bei denen der Embryo außerhalb der Gebärmutter wächst – eine akute Lebensgefahr für die Frau.“ Weil die polnischen Ärzt:innen auch vor solchen Schwangerschaftsabbrüchen zurückschreckten, kämen die Frauen zu ihr. Mehrfach hätte sie solche Fälle schon operiert. „Diese Situationen bleiben lange im Gedächtnis.“

Das Rechercheprojekt „Exporting Abortion“ hat die Situation ungewollt Schwangerer in Deutschland, Österreich, Andorra, Belgien, Frankreich, Irland, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Polen, Portugal, Slowakei, Spanien, Tschechien und Großbritannien untersucht.
Die Ergebnisse basieren auf 12 Statistiken aus 2019 bis 2023 zu Personen mit Wohnsitz in einem anderen Land als dem des Eingriffs. Auch Daten aus der Schweiz sind eingeflossen. Dort und in Tschechien wird jedoch nicht der Wohnsitz, sondern die Nationalität erhoben. Weiter Informationen gibt es auf exportingabortion.com
„Auf die gesetzliche Lage kann man sich nicht verlassen“
Die Frauen müssten weite Wege auf sich nehmen, sagt die Ärztin, „und ich muss alles perfekt machen, damit sie sicher nach Hause kommen“. Dabei habe sie so sehr auf die neue polnische Regierung gesetzt. Bisher vergeblich. Im vergangenen Jahr geriet Kubisa ins Visier der polnischen Behörden. Die Polizei durchsuchte ihre Praxis in Stettin, die Staatsanwaltschaft wirft ihr illegale Schwangerschaftsabbrüche vor. Kubisa bestreitet das und betont, in Stettin gar keine Abbrüche durchzuführen. Sie mache dort nur medizinische Nachversorgung. Der Gerichtstermin steht noch aus. „Die Ungewissheit ist belastend, aber ich mache weiter. Es gibt zu viele Patientinnen, die meine Hilfe brauchen.“
Kubisa führt nach eigenen Angaben in Brandenburg monatlich etwa 30 Schwangerschaftsabbrüche durch. Außerdem kämen viele polnische Frauen zur Sterilisation zu ihr nach Prenzlau – nicht nur Mütter, sondern auch junge Frauen, die sich bewusst vor einer ungewollten Schwangerschaft schützen wollen. „Sie wollen nicht vom Staat gezwungen werden, schwanger zu werden. Sie haben Angst um ihr Leben“, erzählt Kubisa.

Diese Recherche wurde vom Journalismfund Europe unterstützt.
Die polnisch-deutsche Gruppe Ciocia Basia, gegründet 2014, hilft mit rund 15 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen jährlich über 100 polnischen Personen bei der Organisation von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland und unterstützt sie in Härtefällen finanziell. Auch die Aktivist:innen stoßen in Deutschland immer wieder auf Hindernisse: „Jede Praxis hat eigene Regeln“, sagt eine Ehrenamtliche von Ciocia Basia. „Medikamentös nur bis zur 7. Woche, operativ nur bis zur 12. Woche, Raucher nehmen wir nicht – abstrus. Auf die gesetzliche Lage allein kann man sich da nicht verlassen.“
Bei frühen und unproblematischen Schwangerschaften empfiehlt Ciocia Basia daher einen medikamentösen Abbruch vor Ort in Polen mithilfe von Organisationen wie Women help Women. Ab der 13. Woche müssten die Frauen nach Österreich, wo es keine Beratungspflicht gibt, oder nach Holland, sagt die Ehrenamtliche.
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Die Herkunft wird nicht dokumentiert
Polen ist eines der wenigen europäischen Länder, in denen mehr Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland reisen, als ihn im eigenen Gesundheitssystem vornehmen zu lassen. Offiziellen Zahlen zufolge gab es zwischen 2019 und 2023 landesweit 4.244 legale Abbrüche. Für denselben Zeitraum dokumentiert Exporting Abortion mindestens 4.582 Schwangerschaftsabbrüche polnischer Frauen im Ausland.
Die deutsche Statistik zu Schwangerschaftsabbrüchen erfasst nicht, aus welchen Ländern die ausländischen Patient:innen stammen. Obwohl das Schwangerschaftskonfliktgesetz eigentlich vorschreibt, dass der Herkunftsstaat der ungewollt Schwangeren dokumentiert wird. Das Statistische Bundesamt erklärt auf Anfrage, dass dies wegen der geringen Zahl an Fällen und des hohen Aufwands für die genaue Erfassung nicht erfolgt. Diese Informationen seien „bisher auch vom Gesetzgeber sowie Verbänden nicht eingefordert“ worden. Bei „den geringen Fallzahlen spielen auch Geheimhaltungsaspekte eine Rolle“, heißt es vonseiten der Beamten.
Im Jahr 2023 reisten rund 460 Personen für einen Schwangerschaftsabbruch nach Deutschland ein – davon fanden rund 330 Eingriffe in Berlin und Brandenburg statt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele dieser Frauen aus Polen kamen.
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