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Wer die Arbeit macht

Die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina dokumentierte russische Kriegsverbrechen. Dann wurde sie von einer russischen Rakete getötet. Ihr unvollendetes Buch liegt jetzt auf Deutsch vor

Nach der Trauerfeier für Victoria Amelina in Kyjiw am 4. Juli 2023 Foto: Jose Colon/aa/picture alliance

Von Jens Uthoff

Es ist ungewiss, von welcher Rakete ich in Cherson womöglich getroffen werde, also kann dieses Dokument für alle Fälle bei dir bleiben“, schrieb Victoria Amelina am 23. Juni 2023 einer Freundin vor einer Reise in die Hafenstadt nahe der Krim und sendete ihr im Anhang eine Datei. Die Schriftstellerin, eine zentrale Figur der ukrainischen Literaturszene, war sich bewusst, dass es jederzeit auch sie treffen könnte. Ein Jahr zuvor hatte sie sich der Gruppe Truth Hounds angeschlossen; sie wollte mithelfen, russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Über ihre Mitstreiterinnen dort schrieb Victoria Amelina Porträts und Reportagen und wollte diese in einer Sammlung veröffentlichen. Um zu zeigen, wer diese Arbeit macht und wie schwierig sie ist. Ihre Texte befanden sich in der Datei.

Die Reise nach Cherson überlebte Victoria Amelina noch, die Fahrt in die Region Donezk vier Tage später nicht. Mit einer Delegation kolumbianischer Autoren besuchte sie Kramatorsk, eine russische Rakete traf an diesem Abend die Pizzeria, in der sie gemeinsam aßen. Dreizehn Menschen kamen infolge des Angriffs zu Tode, darunter Victoria Amelina. Sie starb am 1. Juli 2023 im Krankenhaus von Dnipro im Alter von 37 Jahren.

Ihr unvollendetes Buch ist nun postum auf Deutsch erschienen. „Blick auf Frauen – den Krieg im Blick“, heißt es, der Titel spielt auf die vielen Dokumentaristinnen, Journalistinnen, Kriegsreporterinnen und Juristinnen an, deren Arbeit Amelina in dem Fragment würdigt. Das Buch zeichnet auch ihren eigenen Weg nach dem 24. Februar 2022 nach. Amelina zieht zudem historisch eine Linie von der „Erschossenen Wiedergeburt“ (der Stalin’schen Auslöschung ukrainischer Intellektueller in den 1930ern) über die Verfolgung der sogenannten Sech­ziger-­Kultur­elite in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik bis zur Gegenwart, wo erneut ukrainische Kulturschaffende gezielt getötet werden.

So ist Amelinas Buch in Teilen auch eine postume Hommage an den ukrainischen Schriftsteller und Kinderbuchautor Wolodymyr Wakulenko. Er wurde während der russischen Besatzung in Isjum 2022 verhaftet und später getötet. Sein Kriegstagebuch hatte er im Garten seines Hauses vergraben, Victoria Amelina schildert, wie sie es nach der Besatzung ausgräbt und dem Charkiwer Literaturmuseum übergibt. Die Autorin zitiert aus seinen Aufzeichnungen, die im Mauke Verlag auf Deutsch erschienen sind. Am 21. März 2022 notiert Wakulenko: „Die Vögel singen nur morgens, nachmittags hört man nicht einmal ein Krächzen der Krähen. Was mich schließlich rettet, ist die Musik auf meinem Handy. Und heute am Tag der Poesie wurde ich von einer kleinen Gruppe Kraniche begrüßt, ein Keil am Himmel, und durch ihre ‚Kranu‘-Rufe hindurch konnte man es fast schon hören: ‚Die Ukraine wird sich erholen! Ich glaube an den Sieg!‘ “

Victoria Amelina: „Blick auf Frauen – den Krieg im Blick“. Aus dem Englischen von Steffen Beilich und Andreas Rostek. Edition Fototapeta, Berlin 2025, 304 Seiten, 22 Euro

Ein Schauer läuft einem nicht nur beim Lesen dieser Passage über den Rücken. Zu Beginn des Angriffskriegs kehrt Amelina von einer Urlaubsreise zurück, bringt ihren Sohn in Polen in Sicherheit und muss ihn belügen. „Der Krieg ist eine Quelle schlechter Gewohnheiten.“ Als eine der wenigen geht sie in die Ukraine zurück, während die meisten anderen aus dem Land fliehen. Amelina beschreibt, wie sie lernt, Material zu sichern und zu sammeln, sie listet Kriegsverbrechen auf, die sie recherchiert hat. Und sie stellt eine Reihe beeindruckender Gerechtigkeitskämpferinnen vor, etwa die Schriftstellerin, Anwältin und Frauenaktivistin Laryssa Denyssenko, die die Ukrainian Lawyers Women Association gegründet hat. Oder die Menschenrechtlerin Kateryna Raschewska, die zum Verbleib der nach Russland deportierten ukrainischen Kinder recherchiert.

Amelina beschreibt, wie sie lernt, Material zu sichern, listet russische Verbrechen auf

Wie nötig es eines Tages sein wird, dass die Kriegsverbrechen gut dokumentiert sind, zeigt ein Interview Amelinas mit dem britisch-französischen Juristen und Schriftsteller Philippe Sands. Sands spricht über die Überlastung der Rechtssysteme ob der „schieren Zahl der offenbar begangenen Straftaten“. Er zieht einen Vergleich zu den grausamen Kriegsverbrechen in Ruanda, berichtet von den geschaffenen lokalen Rechtssystemen dort, den sogenannten Gacaca-Gerichten. Lehrreich ist Amelinas Buch an dieser Stelle einmal mehr. So wird ein Stück Rechtsgeschichte aufgerollt und erzählt, wie die in Lwiw ausgebildeten jüdischen Juristen Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin die Termini „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geprägt haben.

Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses Buch Fragment bleiben muss. Die vier Kol­le­g:in­nen Amelinas, die das Manuskript bearbeitet haben, reihen gelegentlich seitenweise kurze Notizen Amelinas aneinander; sie wollen Victoria Amelina und ihrer Vorstellung von diesem Buch möglichst gerecht werden. Aus Lesersicht ist das nicht immer befriedigend, zumal das Buch ohnehin schon komplex aufgebaut ist und thematische und zeitliche Sprünge enthält. Angesichts der Fülle an Informa­tio­nen und der vielen berührenden Passagen sind diese Punkte aber zu vernachlässigen. Victoria Amelina hat nicht nur all den unermüdlichen Aufklärerinnen in der Ukraine ein Denkmal gesetzt, sondern auch sich selbst.

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