Syrien hat eine neue Regierung: Eine Ministerin zwischen Technokraten
Syriens Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa ruft eine neue Regierung ins Leben. Sie soll Syriens ethnische und religiöse Vielfalt besser widerspiegeln.

Von den 23 Minister*innen waren acht zuvor entweder im „Syrian Salvation Government“ in Idlib aktiv, das bis 2024 die nördliche Provinz regierte. Oder sie standen Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), der einstigen islamistischen Miliz von Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa, nah. Die sonstigen Minister*innen sind Technokrat*innen, die teilweise im Ausland studiert oder gearbeitet haben. Die einzige Frau, Hind Kabawat, ist Christin und eine bekannte Friedensaktivistin. Sie soll das Ministerium für Soziales leiten. Bildungsminister Mohammad Turko gehört der kurdischen Gemeinschaft an, Landwirtschaftsminister Amjad Badr ist Druse. Auch ein Alawit ist dabei, der Verkehrsminister Yaarub Badr, der bereits unter Assad das Amt bekleidete. Der Leiter der Weißhelme Raed al-Saleh wird Minister für Notstandsmanagement.
Die wichtigsten Ministerien – Inneres, Verteidigung, Auswärtiges – bleiben in den Händen von al-Scharaas Vertrauten, die Verteidigungs- und Außenministerien werden weiterhin von Murhaf Abu Qasra beziehungsweise Asaad al-Schibani geleitet. Justizminister Mazhar al-Wais war ebenfalls in Idlib aktiv und ist Scharia-Experte. Verglichen mit der ersten Übergangsregierung ist die Neue nun inklusive.
Vor allem nach den Massakern an den Alawit*innen Anfang März stand al-Scharaa unter Druck, die komplexe ethnische Landschaft Syriens in der neuen Regierung widerzuspiegeln. „Wir sind Zeug*innen einer neuen Phase in unserer nationalen Entwicklung. Und die Entstehung einer neuen Regierung heute ist eine Ankündigung unseres gemeinsamen Willens, einen neuen Staat aufzubauen“, so al-Scharaa am Sonntag.
Strom fließt noch immer nur wenige Stunden am Tag
Auf der Tagesordnung der neuen Regierung: emigrierte und geflohene Syrer*innen aus dem Ausland zurück in ihre Heimat zu locken, Landwirt*innen zu unterstützen sowie den Energiesektor umzubauen, um endlich eine ununterbrochene Stromversorgung zu gewährleisten. Und: „Wir werden Syriens Armee wiederherstellen, nachdem das frühere Regime ihren Ruf verleumdete“, so Verteidigungsminister Abu Qasra. Auch Bildung, Technologie und Gesundheitswesen sollen vorankommen. Gerade fehlt es im angeschlagenen Land am Nötigsten: Strom fließt noch immer nur wenige Stunden am Tag, Gas zum Kochen und Heizen ist teuer und schwer zu finden, in den Krankenhäusern mangelt es an Medikamenten und Geräten.
Al-Scharaa, der sich seit der Machtübernahme von seiner dschihadistischen Vergangenheit distanziert hat, bleibt in seiner Funktion als Staatsoberhaupt. Einen Regierungschef gibt es laut der neuen Verfassung nicht. Al-Scharaa hatte einen Zeitraum von fünf Jahren bis zur ersten freien Wahl angekündigt – und so lange garantiert ihm die neue Verfassung sein Amt als Präsident.
Expert*innen und Zivilorganisationen hatten seit Bekanntgabe der neuen Verfassung Mitte März einige Bedenken geäußert: Laut Human Rights Watch verdichte die Verfassung etwa die Macht bei der Exekutive, die Autorität des Präsidenten unterstehe außerdem kaum Kontrollen. Auch die Tatsache, dass lediglich eine Frau unter den Minister*innen zu finden ist, stimmt manch ein Beobachter nachdenklich. In der neuen Verfassung sind die Rechte der Frauen auf Bildung, Arbeit und politische Teilnahme garantiert, gleichzeitig wird islamisches Recht die Hauptquelle bei der Gesetzgebung. Kurdische Medien betonten, dass kein Mitglied der kurdischen Verwaltung im Nordosten dabei sei.
Die Bildung der neuen Regierung gilt als Meilenstein des Übergangs von einer jahrzehntelangen Diktatur hin zu einer neuen Ära in der syrischen Geschichte. Von ihr hängt einiges ab. Denn mehrere Sanktionen durch die Europäische Union sowie die USA sind noch in Kraft. Westliche Regierungen haben in den vergangenen Monaten mehrfach ihre Skepsis gegenüber den neuen Machthabern geäußert. Kein Geld für „islamistische Strukturen“, hatte etwa Außenministerin Annalena Baerbock auf ihrer Reise nach Damaskus im Januar gewarnt. Es ist jetzt an den neuen syrischen Amtsträgern, die ausländischen Regierungen vom syrischen Wandel zu überzeugen.
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