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Der große Horror

Anfang März ereignete sich an der Küste Syriens das größte Massaker seit dem Sturz des einstigen Diktators Baschar al-Assad. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Hunderten getöteten Zivilist*innen. Die Überlebenden sammeln Beweise, denn sie wollen Gerechtigkeit

Mitglieder der syrischen Zivilschutz­organisation „Weißhelme“ transportieren am 9. März einen ­Leichnam im Küstenort Baniyas ab Foto: Syrian Civil Defense White Helmets via ap

Von Serena Bilanceri

Die Mörder kamen am frühen Nachmittag. Um 13.30 Uhr war das, am Freitag. Davor waren Menschen in das alawitische Viertel von Baniyas gekommen, wie Kämpfer angezogen. „Auf zum Dschihad!“ riefen sie. So erzählt es Rasha Sadeq am Telefon, Tränen laufen im Hintergrund wie eine leise Geräuschkulisse.

Sadeq ist 37 Jahre alt und Alawitin. Sie lebte in Baniyas, einer Kleinstadt an der syrischen Westküste. Lebte, weil sie derzeit in Damaskus ist – und ihre Familie nicht mehr auf dieser Welt. Wer sie getötet hat, ist Gegenstand von laufenden Untersuchungen. Durch die Regierung, durch Menschenrechtsorganisationen. Durch Überlebende selbst und ihre Angehörigen, die im Verborgenen Beweise sammeln.

Am Wochenende zwischen dem 6. und dem 9. März ereignet sich in den Dörfern der alawitisch geprägten Küste das größte Massaker an Zi­vi­lis­t*in­nen in der Geschichte seit dem Sturz der ­Assad-Diktatur. 58 Massaker sollen es gewesen sein. So berichtet es die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR). Mehr als 1.500 Zi­vi­lis­t*in­nen sollen dabei ums Leben gekommen sein, die meisten davon Alawit*innen. Mindestens ein Teil von ihnen wurde wohl getötet, weil sie derselben Glaubensgemeinschaft anhingen wie der ehemalige syrische Machthaber al-­Assad. Begonnen hatten die Kämpfe am Donnerstag vor dem Wochenende, als alawitische Aufständische Soldaten der neuen Regierung angegriffen hatten. Mehr als 200 Soldaten der neuen Regierung sollen bei den Massakern ihr Leben verloren haben, sowie knapp 260 Assad-Loyalisten. Andere NGOs sowie die Vereinten Nationen sind konservativer in ihren Schätzungen.

Drei Monate zuvor, am 8. Dezember, war einer Koalition aus islamistischen Rebellen unter Führung der einstigen Terrorgruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS), von der Türkei unterstützten Milizen, Drusen und ehemaligen, abtrünnigen Offizieren ein Wunder gelungen: Den Diktator und Präsidenten Baschar al-Assad fast ohne Blutvergießen aus dem Amt zu zwingen.

54 Jahre lang hatte die Familie Assad mit eiserner Faust über Syrien geherrscht, 13 Jahre davon im Bürgerkrieg. Foltergefängnisse wurden nach Assads Flucht nach Russland entdeckt, auch Massengräber, verstreut im ganzen Land. Assads Staatsapparat hatte auf zunächst friedliche Proteste mit brutaler Gewalt und systematischen Massakern reagiert. Als Reaktion darauf wuchs auch religiöser Extremismus, radikale Is­la­mis­t*in­nen entführten, töteten, terrorisierten Christ*innen, Drus*­in­nen und Andersdenkende. Der arabische Frühling, der 2011 in weiten Teilen des Nahen Osten blühte, verwelkte damals in Syrien zu unendlicher Trauer, Angst und Grausamkeiten.

Die Assads, Ala­wi­t*in­nen im mehrheitlich sunnitischen Land, inszenierten sich auch als Beschützer der Minderheiten, um an der Macht zu bleiben. Gleichzeitig ließ der Präsident die Gruppe der Ala­wi­t*in­nen in Armut, vergab aber bevorzugt an sie öffentliche Stellen, sodass viele für die Regierung arbeiteten. In der Bürokratie, aber auch beim Militär und in den Milizen. Als Befehlshaber, als Ausführer brutaler Befehle. Und der Hass auf diese Gruppe wuchs.

Dann kam der 8. Dezember, der Tag, an dem niemand mehr bereit war, Baschar al-Assad an der Macht zu halten. Nicht mal die alawitischen Soldaten, die oftmals müde und zermürbt waren vom langen Krieg, von den Sparmaßnahmen, von der Armut im ganzen Land – und zum großen Teil widerstandslos ihre Waffen niederlegten, als die Rebellen durch das Land strömten. Assad und seine Familie flüchteten. Doch der Unmut, das Misstrauen gegenüber den Ala­wi­t*in­nen blieb.

Die taz hat seit Beginn der Massaker mit 17 Menschen aus der Region gesprochen, 16 von ihnen gehören der religiösen Minderheit der Ala­wi­t*in­nen an, eine ist Christin. 14 von ihnen leben an der Küste Syriens, zwei sind im Ausland, haben Familie in dem alawitisch geprägten Gebiet. Die meisten erreichen wir per Chat.

Eine der wenigen, die sich traut, mir ihrem Klarnamen in die Öffentlichkeit zu gehen, ist Rasha Sadeq. Sie ist 37 Jahre alt und arbeitet als Make-up-Artist. Ihre Mutter, ihre Brüder, ihre gesamte Familie ist tot. Sie selbst war wenige Tage vor dem Ausbruch der Gewalt nach Damaskus gereist. Nur deshalb, sagt sie, sei sie noch am Leben.

Die Massaker hat Rasha Sadeq am Telefon mit anhören müssen. „Ich habe ihre Schreie [der Kämpfer, Anm. d. Red.] gehört, als ich meine Mama angerufen habe. Sie sagte, sie wolle die Tür öffnen, denn sie hatten angefangen, gegen die Tür zu schießen, um sie aufzubekommen. Sie sagten, sie wollten das Haus durchsuchen und fragten, ob sie Waffen hätten. Aber meine Familie ist nicht bewaffnet, sie sind Zivilist*innen. Meine Mutter ist fast 60 Jahre alt, und meine Brüder sind Zivilisten. Einer hat einen Laden in Baniyas, beide sind ins Ausland gegangen, um der Zwangseinberufung zu entgehen. Sie wollten nicht beim Militär dienen. Sie kamen zurück und bestochen jemanden, um nicht einberufen zu werden. Das war der letzte Anruf, den ich mit meiner Familie hatte.“

Was an diesem Märzwochenende in Sadeqs Heimat geschah, lässt sich inzwischen rekonstruieren: Am Donnerstag starten Gruppen von ehemaligen Assad-Offizieren, Loya­lis­t*in­nen und Aufständischen koordinierte Angriffe auf Streitkräfte der neuen Regierung. In alawitischen Dörfern und entlang der Autobahn locken die Assad-Anhänger die Anhänger der neuen Regierung in Hinterhalte, 231 Soldaten sterben, Dutzende Zi­vi­lis­t*in­nen ebenso. Wieso die Gewalt gerade da aufflammt und ob es ausländische Einflüsse gab, ist noch unklar.

Die neue Regierung reagiert entschlossen: Eine Ausgangssperre wird verhängt, Truppen mit schweren Waffen in das Küstengebiet geschickt. Und dann folgen Aufrufe, sich dem Kampf gegen die Alawiten anzuschließen. In einem Video, das der taz vorliegt, ist zu sehen, wie ein Muezzin beim Abendgebet ruf: Auf zum Dschihad!, in den Heiligen Krieg. Zu Hunderten greifen Männer schließlich zu den Waffen. Aus Idlib und den nördlichen Städten fahren sie am Freitag in Richtung Küste.

Was folgt, sind die Massaker mit Hunderten Toten. Videos, die die taz einsehen konnte, zeigen leblose Körper, Leichen am Straßenrand, verbrannte Menschen in brennenden Autos, Hinrichtungen und Cafés, die in Flammen stehen.

Rasha Sadeq hat mit Menschen gesprochen, die die Massaker miterlebt haben. „Andere Überlebende erzählten mir, die Kämpfer hätten die Menschen gefragt, ob sie Sunniten oder Alawiten sind. Alawiten wurde getötet. Ein sunnitischer Freund fand meine Brüder. Sie lagen in Blutlachen, in meinem Haus.“

Sadeq muss kurz unterbrechen, sie weint. Was sie erzählt, lässt sich nicht restlos überprüfen. Es deckt sich aber mit dem, was NGOs recherchiert haben. Außerdem schickt Sadeq Bilder von ihren Brüdern. Eines zeigt die Brüder mit zwei kleinen Mädchen in einem Schwimmbad spielen, ein anderes zeigt ihre Mutter, die in einer legeren, weißen Bluse, rosarotem Lippenstift und hochgesteckten Haaren an einem Fenster in einem Café sitzt. Dann schickt sie weitere Bilder: Darauf sind drei tote Menschen zu sehen, zwei junge Männer in Jeans und eine Frau in einem Blumenkleid, das Gesicht am Boden, eine Blutlache drumherum.

Sadeq redet von ihren Familienmitgliedern immer noch in der Gegenwartsform. Ihre Mutter und Brüder seien in einem Massengrab beigesetzt worden, sagt sie. Sie konnte die Leichen nicht sehen, denn das Dorf war in den Tagen danach von der Hauptstadt abgeschnitten. Mit ihrem Schmerz ist sie an die Öffentlichkeit gegangen, hat das Geschehen auf Facebook gepostet.

Auf ihrem Profilbild sieht man sie lächeln, lange schwarze Haare, roter Lippenstift und mit Kajal gepflegt konturierte Augen. Auf ihrer Profilseite stehen auch jubelnde Kommentare mit der Revolutionsflagge, gepostet kurz nach dem 8. Dezember. Jetzt sagt sie, sie will Gerechtigkeit. „Ich will diese Kriminellen gefasst sehen.“

Wer die Massaker verübt hat, wird derzeit ermittelt. Racheakte scheinen inzwischen einen Teil der Morde zu erklären

Die Gewalt ist nicht aus dem Nichts gekommen. Seit Mitte Januar durchziehen Spannungen die Region. Am 14. Januar entführte ein Ex-Kommandeur einer Assad-Miliz sieben Soldaten der neuen Regierung in der Nähe von Latakia und drohte in einem Video, sie zu erstechen. Ehemalige Militärs hatten Fallen gestellt und Streitkräfte getötet, als diese in die alawitisch geprägten Dörfer einmarschierten, um gesuchte Ex-Offiziere in ihren Häusern zu verhaften.

Und unter Ala­wi­t*in­nen machten Nachrichten über wiederkehrende Entführungen und Tötungen von Zi­vi­lis­t*in­nen die Runde. Selbstjustiz und konfessionsgebundene Morde in mehreren Fällen, wie NGOs bestätigten. Berichte von gewaltsamen Festnahmen durch die neue Verwaltung, Verhaftungen ohne anschließende Verfahren und gar Folter mehrten sich. Doch noch hielt sich alles in Grenzen. Bis jetzt.

Ali ist 42 Jahre alt, seinen richtigen Namen will er nicht veröffentlicht sehen. Er meldet sich in einem Chat: „Gegen 2 Uhr nachmittags sind sie in die Häuser eingedrungen. Sie fluchten. Dann brachten sie die Männer auf die Dächer und schossen ihnen in den Kopf. Die einzige Frage war die nach ihrer Religionszugehörigkeit“. Alis Onkel, 69 Jahre alt, sei an jenem Freitag getötet worden. „Es gab verschiedene Fraktionen, einige ermordeten nur die Männer, andere auch Frauen und Kinder, andere ganze Familien in ihren Häusern. Sie [die Kämpfer, Anm. d. Red.] gehörten verschiedenen Nationalitäten und Ethnien an. Meinen Vater und Bruder, die im selben Gebäude lebten, brachten sie ebenso aufs Dach. Dort töteten sie sie.“

Dass Ali noch am Leben ist, verdankt er einem Zufall. Und einem sunnitischen Freund. „Ich war in einem Gebäude, ein paar Minuten von meinem Haus entfernt. Meine Familie informierte mich sofort über das Geschehen, als sie die Schüsse auf dem Dach hörten, sie sagten, ich solle fliehen.“ Er habe das Gebäude verlassen und sich versteckt. Bei der Flucht half ihm ein sunnitischer Freund, der im Süden der Stadt lebt.

Erst am Sonntag habe Ali zurück in sein Viertel gekonnt, um die Leichen seiner Familienmitglieder zu begraben. Fast zwei Tage lang hatten sie in der Sonne auf dem Dach gelegen. Er erzählt von Frauen, die die Körper ihrer Angehörigen zum Friedhof trugen. Von Geschäften, die geplündert wurden. Von einem Viertel, in dem das Leben wortwörtlich erloschen sei.

„Ich bin jetzt im Ausland, aber meine Familie ist in Baniyas. Sie haben Angst. Meine Mutter und meine Schwestern sind geflohen, mein Vater ist bei seiner Mutter geblieben. Als die Tötungen begannen, sagte er: Wir werden hier sterben. Also nahm er seine Familie und stieg in ein Auto. Sie wurden von Streitkräften angehalten, diese sagten zu meinem Onkel: Fahr los, behielten aber meinen Vater dort. Als mein Onkel wegfuhr, hörte er die Schüsse.“

Jamila schreibt vom anderen Ende der Welt. Auch sie heißt eigentlich anders. Sie schickt Links zum Facebook-Profil ihres Vaters, einem bekannten Sportler.

Mehrere Ala­wi­t*in­nen konnten sich dank sunnitischer Bekannten retten. Es ist ein Lichtblick inmitten all des Hasses

„Sie fanden mehrere Kugeln im Körper meines Vaters. Eine Stunde lag er da. Niemand hatte den Mut, zu ihm zu gehen. Als die Kämpfer weg waren, brachte ihn jemand ins Krankenhaus. Er hatte viel Blut verloren, es war zu spät.“ Jamila erfuhr von einer Krankenschwester, dass ihr Vater gestorben war. „Es bringt mich um, die Tatsache, dass ich nicht bei meiner Familie bin, dass ich nichts tun kann. Es zerreißt mich.“ Jamilas Schwester bestätigt später der taz diese Geschichte.

Mehrere Ala­wi­t*in­nen konnten sich offenbar dank sunnitischer Nachbarn und Bekannten retten. Es ist ein Lichtblick inmitten all des Hasses, all der Grausamkeit.

Doch wer ist für die Toten verantwortlich? Viele Zeu­g*in­nen sprechen von HTS-Verbündeten oder islamistischen Kämpfern, teilweise Ausländern, etwa aus Tschetschenien und China. Bestätigt ist das noch nicht, NGOs und die Regierung ermitteln noch. Der neue syrische Präsident Ahmad al-Scharaa erklärte, die Morde gefährdeten die Einheit des Landes, und versprach Gerechtigkeit – selbst wenn diese seine eigenen Verbündeten treffen sollte. „Syrien ist ein Rechtsstaat und das Gesetz wird für alle seinen Lauf nehmen“, sagt er. Eine Untersuchungskommission soll es nun richten.

Racheakte, die entlang konfessioneller Grenzen verübt werden, scheinen inzwischen einen Teil der Morde zu erklären. Die NGO SOHR spricht von „Mitgliedern der Innen- und Verteidigungsministerien sowie Hilfstruppen“. Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen hingegen von außergerichtlichen Hinrichtungen durch unbekannte Bewaffnete, Milizionäre, die offenbar die Übergangsregierung unterstützen, sowie von Anhängern des früheren Regimes.

Auch aus dem europäischen Ausland kamen Forderungen nach Aufklärung. Das deutsche Auswärtige Amt, das seine Botschaft in Syrien gerade wieder geöffnet hat, ließ durch Ministerin Annalena Baerbock mitteilen, die Gewaltausbrüche hätten „massiv Vertrauen gekostet“. Von der Übergangsregierung fordere man „Kontrolle über das Handeln der Gruppierungen in den eigenen Reihen“.

Der Ernstfall, das, was viele in den letzten Monaten befürchtet haben, ist an diesem Märzwochenende eingetreten. Doch es geht dabei nicht nur um die vielen Toten. Auch Menschen, die nicht getötet wurden, sind Opfer, bleiben mit physischen und psychischen Verletzungen zurück.

Syrische Alawiten fliehen vor der Gewalt in ihren Heimatdörfern über den Fluss in den Libanon Foto: Marwan Naamani/dpa/picture alliance

Leila lebt in Latakia und arbeitet ehrenamtlich in einem lokalen Krankenhaus. Auch sie spricht mit der taz nur unter der Bedingung, dass ihr richtiger Name nicht genannt wird. „Ich kümmere mich gerade um drei Kinder, die während der Kämpfe verletzt ins Krankenhaus gebracht wurden. Einer ist sieben Monate alt, ihm wurde eine Kugel ins Bein geschossen, er trägt jetzt einen Gips und muss später vielleicht operiert werden. Die zweite ist fünf Jahre alt, ihr wurde in den Bauch geschossen, ihre Lage ist kompliziert. Es fehlen Antibiotika, Medikamente. Wir sammeln gerade Geld, um sie in ein privates Krankenhaus zu bringen. Das dritte Kind ist zehn Jahre alt und stabil. Im Krankenhaus gab es viele junge Kämpfer, HTS sowie Alawiten, mit Schussverletzungen, viele auf der Intensivstation. Am ersten Tag starben ebenfalls drei Kinder.“

Über Whatsapp schickt Leila Bilder und Videos: ein Mädchen mit offener Schusswunde im ­unteren Bauch, ein Baby mit Gipsbein. „Jetzt hat sich die Lage beruhigt, doch es gibt Hunderte ­Menschen, die geflohen sind und zurück möchten, sich aber nicht trauen. Sie haben Angst“, erzählt Leila.

Zu Hunderten, wenn nicht Tausenden sind Ein­woh­ne­r*in­nen geflohen, als die Gewalt ihren Lauf nahm. Manche verstecken sich heute noch in den Bergen. Andere auf der russischen Militär­basis und dem Flughafen Hmeimim nahe Latakia. Mindestens 9.000 waren es noch eine Woche später, nach Angaben des russischen Außenministeriums.

Mohammad, 38 Jahre alt und Schiffskapitän, flüchtete mit Ehefrau, Neffen und Nichte, zwei und vier Jahre alt, aus Jableh in die nahe gelegene russische Militärbasis. Er zeigt in einem Videoanruf die Landebahn hinter den Bäumen und der Wiese, einige Flugzeuge sind etwas weiter geparkt. Das deckt sich mit Satellitenbildern der Militärbasis. Mohammad plant erstmal, länger zu bleiben und fordert internationalen Schutz.

Er schreibt per Chat: „Es gab Razzien in jedem Dorf, deshalb sind alle in die Militärbasis geflohen. Meine komplette Familie ist hier. Die Lage ist schrecklich. Draußen und drinnen. Es gibt viele Bewaffnete außerhalb der Basis. Wir können nicht zurück nach Jableh. Wir bleiben hier. Aber es gibt nicht genug zu Essen. Menschen von außerhalb bringen Nahrungsmittel und Wasser. Kartoffeln, Eier, Brot. Aber es ist nicht genug. Wir schlafen im Freien, in Autos. Ein Freund von mir in einer Hängematte. Ein anderer unter den Bäumen. Es gibt drei Toiletten für Tausende Menschen.“

Erst diese Wochen haben einige Geflüchtete allmählich begonnen, in ihre Dörfer zurückzukehren. Andere sind in den Libanon geflohen, quer über den Fluss al-Kabir. Mit Plastiktüten voller Klamotten und Habseligkeiten, teils mit Kindern auf dem Rücken, wateten sie durch das seichte Gewässer über die Grenze.

Eine Frau aus dem Dorf Karto schreibt der taz, sie lebe jetzt mit 17 weiteren Sy­re­r*in­nen im Haus einer libanesischen Familie in Tripoli: „Ich bin mit einigen Familienmitgliedern über den Fluss auf die libanesische Seite geflohen, nachdem die Kämpfer mein Haus gestürmt und uns mit dem Tod bedroht hatten.“ Einheimische hätten ihr geholfen, den Fluss zu überqueren, erzählt sie. „Das Wasser war nicht hoch, aber die Anwesenheit von Kämpfern in der Gegend war eine Gefahr. Ich hörte das Geräusch von Schüssen im Hintergrund aus meinem Dorf.“

Tausende Ala­wi­t*in­nen sollen im Libanon Schutz gesucht haben. Ein Video der BBC zeigt Frauen und Kinder, die in einem offenen Raum auf Schaummatratzen schlafen. Beobachter sind besorgt, dass diese Fluchtwelle zu erneuten Konflikten zwischen Sun­nit*in­nen und Ala­wi­t*in­nen auch im Libanon führen konnte.

Viele, wahrscheinlich die meisten Menschen, mit denen die taz gesprochen hat, waren mehr als eine Woche nach dem Geschehen zu erschrocken, um in ihre Häuser zurückzukehren. Einige träumen vom Auswandern, andere fordern internationale Hilfe.

Aber alle wollen, dass die Taten aufgeklärt werden. Doch viele vertrauen den neuen Institutionen und der neugegründeten Untersuchungskommission nicht mehr. Sie suchen nur eines: Gerechtigkeit.

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