: „Das sehe ich als Beginn des deutschen Rechtsterrorismus“
In den 1960er Jahren unterstützten deutsche Rechtsextreme Abspaltungsbewegungen in Südtirol – auch mit terroristischen Mitteln und protegiert von BRD-Politikern. Der Historiker Darius Muschiol über die Bedeutung des „Südtirol-Terrorismus“

Von Marietta Meier
taz: Mitte Februar wurde gemeldet, dass rechtsextreme Straftaten im Jahr 2024 ein neues Rekordhoch von 41.406 Delikten erreicht haben. Darunter sind 1.443 Gewalttaten, ebenfalls ein neuer Höchststand. Bereits 2023 waren die Zahlen höher als in den Vorjahren. Haben wir aus der Vergangenheit nichts gelernt?
Darius Muschiol: Ich würde sagen, dass wir in Bezug auf Rechtsterrorismus, rechte Gewalt und die staatlichen Reaktionen darauf nur sehr langsam gelernt haben. Es gab durchaus Lernprozesse, insbesondere nach der Selbstenttarnung des NSU. Da hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung und im staatlichen Umgang etwas verändert. Ein Blick auf meine Forschungsergebnisse zeigt aber, wie groß das schiere Ausmaß des Rechtsterrorismus in der Vergangenheit war und wie wenig Wissen gleichzeitig darüber präsent ist. Daher würde ich sagen, dass wir in Deutschland leider immer noch eine sehr große Blindstelle haben.
taz: In Ihrer Studie untersuchen Sie rechten Terror in der BRD zwischen 1949 und 1990 und legen damit die erste umfangreiche geschichtswissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema vor. Warum gab es bislang dazu keine Forschung?
Muschiol: Wie in der gesamten Gesellschaft stand auch in der Zeitgeschichtsforschung ganz überwiegend nur die Auseinandersetzung mit dem Linksterrorismus im Vordergrund. Erst in den letzten Jahren fand auch hier ein Umdenken statt und die Untersuchung des Rechtsterrorismus, ja ganz allgemein des Rechtsextremismus, rückte in den Fokus.
taz: Sie haben jahrelang in Archiven und historischen Quellen gegraben. Gab es Überraschungen?
Muschiol: Die größte Überraschung war für mich das Ausmaß der Involvierung rechtsextremer Protagonisten in den Südtirol-Terrorismus und die diesbezügliche Verstrickung bundesdeutscher Politiker. Den sehe ich als Beginn des bundesdeutschen Rechtsterrorismus an. Er fand zwar nicht in der Bundesrepublik statt, wurde aber von Deutschen, zumeist gemeinsam mit Österreichern, geplant und ausgeführt.
taz: Was genau war der Südtirol-Terrorismus, und was hatte die BRD damit zu tun?
Muschiol: In den 1960er Jahren gab es in Südtirol, das seit dem Ersten Weltkrieg zu Italien gehörte, Autonomiebestrebungen der deutschsprachigen Bevölkerung. Im Kontext dieses Konfliktes gab es auch Bundesdeutsche mit rechtsextremem, mitunter neonazistischem Hintergrund, die in Italien Anschläge mit pangermanistischer Zielstellung verübt haben. Zum Teil waren die Anschläge auch tödlich. Hier kann anhand von Archivakten nachgewiesen werden, dass rechtsextreme Akteure damals von mehreren Bundespolitikern geschützt wurden. So haben der damalige Bundesjustizminister Ewald Bucher und zumindest indirekt der Minister für besondere Aufgaben, Heinrich Krone von der CDU, sogar in den Prozess der Strafverfolgung eingegriffen.
taz: Welche Täter waren das und warum wurden diese nicht verurteilt?
Muschiol: Norbert Burger etwa war ein in Deutschland lebender österreichischer Rechtsextremist, der deutsche Rechtsextreme angeworben hat, in Südtirol Anschläge zu begehen. Von München aus hat er eine Art „Terrorzentrale“ koordiniert. Die Ermittlungen wurden aber nicht, wie es in Terrorismusfällen eigentlich zu erwarten gewesen wäre, von der Generalbundesanwaltschaft, sondern von regionalen Staatsanwaltschaften übernommen und verliefen danach häufig im Sande. So findet sich etwa in den Ermittlungsunterlagen ein Schreiben, in dem der Münchner Staatsanwalt, der gegen Burger ermittelte, versuchte, seinen Fall loszuwerden. Er schreibt, dass in Bayern kein großes Interesse an einer Strafverfolgung Burgers bestehe, und erwähnte dabei den Umstand, dass Burger mit Bundesminister Krone sehr gut bekannt, sogar befreundet sei.
taz: Wie lässt sich der Rechtsterrorismus in der alten Bundesrepublik gliedern?
Muschiol: Es gibt ein paar klassische Wegmarken, die in der breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, wie das Oktoberfest-Attentat 1980. Aber es gab daneben viele Gruppierungen und unzählige Anschläge und Anschlagspläne. Ich spreche in meiner Forschung von drei Phasen des Rechtsterrorismus zwischen 1949 und 1990, die alle einen unterschiedlichen Hintergrund mit anderen politischen Situationen, Anschlagszielen und Feindbildern hatten. Am stärksten ist der Terrorismus in der Phase von etwa 1977 bis 1982, wo es eine massive Häufung von Anschlägen gibt. In dieser dritten Phase richtet sich der Terrorismus erstmals gegen die liberale Demokratie.
Darius Muschiol
Jahrgang 1992, studierte Geschichtswissenschaften und Zeitgeschichte in Freiburg und Potsdam. Seine Dissertation „Einzeltäter? Rechtsterroristische Akteure in der alten Bundesrepublik“ entstand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
taz: Sie nennen Ihre Studie „Einzeltäter?“ und werfen die heute noch rege diskutierte Frage auf, ob es Netzwerke um rechtsterroristische Täter gibt. Waren es Einzeltäter?
Muschiol: Nein, eindeutig nicht. Diese Zuschreibung hat leider die staatliche Sicht auf Rechtsterrorismus jahrelang geprägt. Ich nenne das die Vereinzelungsthese, weil man immer wieder von Einzeltätern, vereinzelten Personen oder kleinen Gruppen gesprochen hat. Das lässt sich aber schon deswegen widerlegen, weil es eine starke nationale und internationale Vernetzung der Szene gab. Die Protagonisten haben ihre Ideologie, ihre Professionalität oder ihre Ausübung der Gewalt in anderen rechtsextremen Gruppen gelernt, wo sie oft jahrelang aktiv waren. Zudem gab es internationale Verbindungen in die USA, nach Frankreich, in den Libanon oder nach Belgien. Außerdem haben sich die Rechtsterroristen Feindbilder gesucht, die nicht nur sie, sondern auch das rechtsextreme Milieu und teils weite Teile der deutschen Bevölkerung geteilt haben.
taz: Die Rechtsterroristen wollten sozusagen den Willen der Bevölkerung ausdrücken?
Muschiol: Richtig, man könnte sagen, dass sich Rechtsterroristen oftmals als Vollstrecker eines „allgemeinen Volkswillens“ positioniert haben. Als der RAF-Terror begann und es eine Stimmung gegen Linksextremismus in der Bevölkerung gab, entstanden Gruppen, die behaupteten, den Staat gegen alles, was man für eine „linke Gefahr“ hielt, schützen zu müssen. Im Übergang zu den 1980er Jahren richtete sich die Gewalt dann zunehmend gegen Migranten. Damals tauchten in rechtsextremen Publikationen Begriffe wie „Ausländerschwemme“ und „Ausländerflut“ auf, die auch auf die damalige gesamtgesellschaftliche Debatte einwirkten. Vor diesem Hintergrund verübten die Rechtsterroristen ihre Anschläge auf Migranten. Rechtsterroristen schlugen nie in einem luftleeren Raum zu.
taz: Haben Rechtsterroristen denn ihre Ziele erreicht?
Muschiol: Es gab Teilerfolge. Anfang der 1980er Jahre etwa gab es die ausländerfeindlichen Anschläge der „Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder, die zwei Menschen das Leben kosteten. Roeder hatte damals das Ziel verfolgt, „Druck“ auf die Bundesregierung auszuüben. Kurz darauf erklärte Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung sofort die „Ausländerpolitik“ zu einem seiner wichtigsten Themen.
taz: Für den Zeitraum rechter Gewalt in der Zeit nach der Wiedervereinigung wird auch das Attribut „Baseballschlägerjahre“ vergeben. Konnten die Neonazis in den 1990ern auf bestehende Netzwerke und Strukturen von der Zeit davor zurückgreifen?
Muschiol: Auf jeden Fall konnten sie von der Fehlwahrnehmung bzw. Bagatellisierung rechter Gewalt durch Staat, Gesellschaft und Politik profitieren. Das Unwissen, Wegschauen, Negieren und Kleinreden waren Kontinuitäten, die den Umgang mit rechtsextremer Gewalt über Jahrzehnte prägten.
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