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Die deutsche KartoffelVon der Hexenpflanze zur woken Selbstironie

Manche bezeichnen sich als „Kartoffel“. Die Beilage ist zum Essen da, als Begriff schmeckt sie vielen nicht – er gehört auf den Komposthaufen.

Deutsche Kartoffeln haben oft ausgefallene Namen: Diese Sorte heißt „Melodie“

E ssen Sie auch so gern Kartoffeln? Dann bedienen Sie das Klischee, wonach sehr viele Deutsche sehr viele Kartoffeln essen. Als deutsche Kartoffel würden Sie sich selbst deswegen aber nicht bezeichnen, oder?

Wenn doch, gehören Sie vielleicht zu einer Gruppe von Menschen, die sich im linken Spektrum verorten und die „deutsche Kartoffel“ in einer Marinade aus würziger Selbstironie und raffinierter self-awareness servieren. Kaut man etwas länger darauf herum, tritt indes ein schaler Beigeschmack auf. Zeit also für einen kritischen Biss, äh, Blick.

Die deutsche Kartoffel hatte nicht immer einen guten Ruf. Gestartet ist sie als Bezeichnung migrantischer communities für Deutsche ohne Migrationshintergrund – eben weil die so gern Kartoffeln essen. So viele sind es dann aber doch nicht. Die Deutschen und ihre Kartoffelliebe schaffen es europaweit nur auf Platz sechs.

Und so beliebt wie heute war die Kartoffel auch nicht immer. Bei ihrer Ankunft in Europa hatte sie erst einmal den Ruf der „Hexenpflanze“, weil sie ungekocht bisweilen Bauchweh auslöste. Auch einigen deutschen Konservativen bereitete das Gemüse lange Verdauungsbeschwerden. Sie empfanden den Begriff als antideutsch und rassistisch.

Kartoffel auf Karrierehoch

Heute erlebt die „deutsche Kartoffel“ indes ein Karriere­hoch. Unter der selbstironischen Schale steckt manchmal das Bild eines unbeholfenen, humorlosen Deutschen („Alman“). Stereotype also, die es über jede Nation gibt und die so verletzend wie lustig sein können. Oft verbirgt sich hinter der Bezeichnung die soziale Konstruktion „weiß“ oder „biodeutsch“.

Letzteres hat eine weniger steile Karriere als Unwort des Jahres 2024. „Biodeutsch“ bewerte Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien und diskriminiere sie, begründete die Jury. Verständlich, dass viele auf die locker-lustige Kartoffel ausweichen.

Natürlich dürfen deutsche Kartoffeln weiter gekocht, gebraten, frittiert werden. Um Rassismus zu bekämpfen, müssen wir die reale Grenze samt ihrer Ausgrenzungsmechanismen gegen Bevölkerungsgruppen konfrontieren. Aber manchmal lohnt sich zu prüfen, welche Narrative man reproduzieren möchte und wann man lieber einfach „weiß“ sagt. Über Ethnizität zu sprechen, ist eine schwierige Aufgabe. Eine mit Witz gewürzte Kartoffel löst sie nicht auf.

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Studiert Kulturwissenschaften und Philosophie in Leipzig, derzeit im taz-Kulturressort. Schreibt gern über Kunst, Mensch, Mut.
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