Machtmissbrauch an der Uni: Schutzlos in der Sprechstunde
Machtmissbrauch an Universitäten ist strukturell – und fängt schon bei subtiler Übergriffigkeit an. Viele Betroffene fühlen sich alleingelassen.

Er, das ist ein Dozent der HU. Vor zwei Jahren saß Franca, die aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen will, in seiner Sprechstunde. „Es war Winter und ich hatte meine Winterjacke auf dem Schoß, so wie jetzt“, erinnert sie sich. Sie will mit dem Dozenten über ihre Erasmus-Bewerbung reden. Doch der blickt ihr immer wieder schamlos auf die Brüste. „Irgendwann habe ich meine Jacke ein bisschen hochgehoben, er hat trotzdem noch geguckt“, erzählt sie der taz. Das Erlebnis überrumpelt sie. Es steht beispielhaft dafür, wie Machtmissbrauch an Universitäten aussehen kann und wie Studierende damit alleingelassen werden.
Die HU-Studierendenverwaltung – der Referent*innenrat – hat kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage zu Machtmissbrauch veröffentlicht. Aus den Antworten von 855 aktiven und ehemaligen Studierenden geht hervor, dass fast die Hälfte der Befragten mindestens einmal mitbekommen hat, wie Dozierende ihre Macht missbrauchen. 14 Prozent haben selbst Machtmissbrauch erlebt.
Aus dem Bericht geht auch hervor: Frauen und queere Personen sind überdurchschnittlich häufig betroffen. Dementsprechend fühlen sich 25 Prozent der weiblichen Befragten und 53 Prozent der Studierenden mit anderer Geschlechtsidentität an der HU nicht uneingeschränkt sicher.
Was bedeutet es, im universitären Kontext Macht zu missbrauchen? Der Referent*innenrat nutzt für seinen Bericht die Definition einer Projekt-Kommission, die sich spezifisch für die Philosophische Fakultät mit der Prävention von Machtmissbrauch befasst hat. Darin heißt es: „Personen können Macht im Verhältnis zu anderen auf eine Art und Weise nutzen, die anderen Zielen als den Zielen der Organisation dient, insbesondere eigenen Zielen, oder die anderen Personen ungerechtfertigten Schaden zufügt.“
Konkret üben Dozent*innen und Professor*innen Macht aus, wenn sie Prüfungen bewerten, Promotionen betreuen oder Seminare leiten – eine große Verantwortung, der nicht alle Autoritätspersonen gerecht werden. Wenn sie diese Macht falsch nutzen, also miss-brauchen, kann das mit verschiedenen Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus oder Ableismus verknüpft sein.
In seinem Bericht zitiert der Referent*innenrat Beispiele für Machtmissbrauch aus der Umfrage: Dozierende, die kritische Beiträge in ihren Veranstaltungen ignorieren und andere Studierende bevorzugen, unsachliches Feedback geben, sich über Fehler von ausländischen Studierenden lustig machen, bewusst und wiederholt queere Studierende mit falschem Geschlecht anreden.
Oder Dozierende, die ihre Studentinnen in unangenehme Situationen bringen. Als Franca in der Sprechstunde sitzt, befindet sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Dozenten: Er soll über ihren Erasmus-Antrag entscheiden und ihr eine Universität zuteilen. Franca studiert zu dem Zeitpunkt im Bachelor Geschichte. „Ich hatte mit ihm vorher schon Kontakt und hatte deswegen auch nichts Unprofessionelles erwartet. Eigentlich hat er sich sonst immer sehr korrekt verhalten“, sagt sie. „Ich dachte davor auch immer, dass es an Universitäten allgemein professionell zugeht und man Student*innen nicht auf ihren Körper reduziert.“
„Richtigen Ekel verspürt“
Franca ist überrascht, wie sehr ihr das Erlebnis zusetzt. Um dem Dozenten nicht mehr zu begegnen, beantragt sie den Erasmus-Aufenthalt über ihr Zweitfach. Sie besucht keine Veranstaltungen mehr bei ihm. „Ich wollte ihm wirklich nie wieder begegnen, weil es so unangenehm war und ich mich so machtlos gefühlt habe und richtig wütend war.“ Vor ein paar Wochen erst sei sie ihm im Institut über den Weg gelaufen. „Da habe ich noch mal richtigen Ekel verspürt vor diesem Mann.“
Seit ein paar Jahren gibt es mehr öffentliche Aufmerksamkeit für Machtmissbrauch an Hochschulen. Das hängt oft mit prominenten Fällen zusammen, die für Schlagzeilen sorgen. So auch an der HU: Im Sommer 2023 machte der Referent*innenrat gemeinsam mit Betroffenen auf Andreas K. aufmerksam. Der Dozent am Geschichtsinstitut war über 20 Jahre lang immer wieder mit sexistischen Kommentaren, übergriffigem Verhalten und sexueller Belästigung aufgefallen, bis dahin jedoch ohne Konsequenzen.
Mit der öffentlichen Aufarbeitung des Falls Andreas K. meldeten sich mehr und mehr Studierende beim Referent*innenrat, die Machtmissbrauch durch Dozierende erlebt hatten, erzählt Ray Babajew. Der Jura-Student und seine Mitstreiter*innen gründeten daraufhin in der Studierendenvertretung eine AG zum Thema Machtmissbrauch. „Wir haben mit Öffentlichkeitsarbeit dazu angefangen, eine Vollversammlung zu dem Thema gehabt, verschiedene Plakate gemacht und so versucht, in der Studierendenschaft auf Machtmissbrauch als flächendeckendes Problem aufmerksam zu machen.“
Franca bekommt davon mit und schildert der AG in einer Mail ihre Erfahrung. „Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass meine Geschichte nicht so relevant ist. Aber ich dachte, es ist gut, wenn sie so viele Erfahrungsberichte wie möglich bekommen.“ Es ist das erste Mal, dass sie sich an eine Anlaufstelle wendet und ihr Erlebnis in einen strukturellen Kontext setzt. Davor sei ihr diese Idee nicht gekommen. „Ich wusste gar nicht, was ich mit dieser Erfahrung machen soll.“ In ihren zwei Jahren an der Universität habe sie von keinem Angebot mitbekommen, das Studierende über das Risiko und mögliche Handlungsstrategien im Fall von Machtmissbrauch aufgeklärt hätte.
Sophia Hohmann engagiert sich im Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft, kurz Mawi. Sie bestätigt den Eindruck, dass Universitäten ihre Studierenden selten aktiv auf mögliche missbräuchliche Erfahrungen vorbereiten. „Man druckst lieber herum und widmet sich dem Thema auf abstrakte Weise.“ Studierende sollten stattdessen regelmäßig zu Semesterbeginn auf das Problem hingewiesen und über Anlaufstellen informiert werden. Dass dies nicht geschehe, zeige, dass Hochschulen versuchten, das Thema kleinzuhalten „und keine Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das es nicht geben darf“, sagt Hohmann.
Ohnehin kämen Studierende in den Debatten um Machtmissbrauch in der Wissenschaft oft zu kurz, so Hohmann. „Sie machen zahlenmäßig die größte Gruppe an der Uni aus, werden aber trotzdem nicht als Teil des Wissenschaftsbetriebes betrachtet.“ Oft drehten sich die Debatten um missbräuchliche Arbeitsverhältnisse zwischen Doktorand*innen und den ihn vorgesetzten Professor*innen.
Um Machtmissbrauch gegenüber Student*innen sichtbarer zu machen, entschied sich der Referent*innenrat im Herbst 2023 dazu, die eigene Umfrage auf Studierende zu fokussieren. „Es wird sonst immer wie ein Einzelphänomen behandelt“, sagt Babajew. Die Ergebnisse der Umfrage entsprechen den Befragungen von Promovierenden und Personen im universitären Mittelbau, wo je nach Studie ebenfalls 10 bis 15 Prozent von Missbrauchserfahrungen berichten. Sophia Hohmann kritisiert, dass es überhaupt von Studierenden selbstorganisierte Umfragen braucht, um die Universität zum Handeln zu bewegen. „Ich finde es bedenklich, dass das wieder von Ehrenamtlichen gemacht werden muss“, sagt sie.
Zu wenig Sichtbarkeit
Neben dem fehlenden Problembewusstsein kritisiert der Referent*innenrat auch die universitären Hilfsstrukturen. Viele der Befragten hätten eine „bessere Sichtbarkeit“ der Anlaufstellen gefordert. An der Humboldt-Universität gibt es ein Netzwerk verschiedener Beauftragter – die richtige Stelle zu finden, kann kompliziert sein. Hinzu kommt: Manche Anlaufstellen sitzen direkt am Institut, die Missbrauchsbeauftragten müssen also im Zweifelsfall mit Vorwürfen gegen Kolleg*innen umgehen. So auch an der HU. Für sexualisierten Machtmissbrauch bieten die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten eine niedrigschwellige Beratung an. Doch in der Umfrage berichten Studierende, dass sie sich dort nicht uneingeschränkt unterstützt gefühlt hätten.
Die Pressestelle der HU weist darauf hin, dass sich Betroffene auch an Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte anderer Institute wenden können. Das Mawi-Netzwerk fordert hingegen eine zentrale Anlaufstelle, die strukturell unabhängig von der Universität arbeitet. Eine externe Stelle für alle möglichen Fälle von Machtmissbrauch würde Betroffenen den Weg zur richtigen Hilfe vereinfachen und möglichen Interessenkonflikten vorbeugen.
Neben all den möglichen Stellschrauben braucht es einen Kulturwandel, da sind sich das Mawi-Netzwerk und der Referent*innenrat einig. „Universitäten müssen Räume schaffen, wo man sich mit den universitätsspezifischen Problemen auseinandersetzt“, sagt Hohmann. „Man sollte mal überlegen, ob man dieses universitäre Feudalsystem erhalten will. Wie kann man das radikal erneuern, sodass es gar nicht erst zu Abhängigkeitsverhältnissen kommt?“, fragt Ray Babajew. Und Franca sagt: „Die Personen in Machtpositionen müssen wissen, welche persönlichen Konsequenzen hat, wenn man von Machtmissbrauch betroffen ist. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins ist ganz, ganz schlimm. Ich glaube, das ist vielen gar nicht bewusst.“
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