: Helden mit Spürnase
Landminen töten jedes Jahr tausende Menschen, darunter viele Kinder. Die Räumung verseuchter Landstriche dauert Jahrzehnte, kostet Milliarden und ist gefährlich. In Kambodscha leistet ein kleines Tier seinen Beitrag dazu: die Minensuchratte

Aus Siem Reap Peter Jaeggi
Wie und wozu erschreckt man eine Babyratte? Mit lautem Autohupen, damit sie Leben rettet. Rattentrainerin Cindy Fast erzählt, wie sie junge Tiere auf die Motorhaube eines Autos setzt, den Motor startet und hupt. Sie wiederholt das so oft, bis die Nager ihre Furcht verloren haben, ihre Backen nicht mehr drohend aufplustern und den Fluchtreflex verlieren. Das Ziel: die Ratte für ihr künftiges Berufsleben fit machen. Als Minensuchratte soll sie später Antipersonenminen aufspüren.
Rund 110 Millionen nicht explodierte Minen und andere Sprengkörper sollen nach Schätzungen des Internationalen Zentrums für humanitäre Minenräumung in Genf (GICHD) als Folge von Kriegen und Konflikten weltweit vergraben sein. Es gibt etwa 600 verschiedene Minenarten, manche aus Plastik und kaum größer als ein Smartphone. Kinder verwechseln sie oft mit einem Spielzeug. Mit fatalen Folgen. Spätestens seit dem Vietnamkrieg ist bekannt, dass etwa ein Drittel der Minen und abgeworfenen Bomben nicht explodieren. In der Ukraine gilt ein Gebiet von der Fläche Österreichs als mit Minen und anderen Kampfmitteln verseucht. Räumungskosten werden auf mehrere Milliarden Euro geschätzt.
Wir treffen die US-amerikanische Wissenschaftlerin Cindy Fast während ihres Arbeitsbesuches im kambodschanischen Siem Reap. In Tansania leitet sie das Training afrikanischer Riesenhamsterratten (Cricetomys gambianus) der „Apopo“-Ausbildungs- und Forschungszentrale an der Sokoine-Agraruniversität. Seit Langem erforscht sie die kognitiven Fähigkeiten und die Intelligenz von Nagetieren. Wie sie ihre Umgebung kennenlernen, wahrnehmen und empfinden. Was Cindy Fast heute professionell auf höchstem Niveau macht, hat Wurzeln in ihrer Kindheit. Schon damals dressierte sie Kaninchen, Vögel und Enten.
Irgendwann kommt bei den Ratten der Moment, in dem sie den Lärm der Autohupe ignorieren und neugierig die Motorhaube erkunden, sagt Cindy Fast. „Dann sind sie bereit für die weitere Ausbildung.“ Nach durchschnittlich neun Monaten des Übens können die Ratten vergrabene TNT-Sprengstoffe aufspüren.
Das Training soll jungen Tieren helfen, allmählich Selbstvertrauen und Widerstandsfähigkeit aufzubauen. „Wir sehen in den Ratten wertvolle Partner und trainieren sie mit wissenschaftlichen Methoden. Dabei stehen ihre außergewöhnlichen sensorischen Fähigkeiten im Zentrum.“
Die Riesenhamsterratte wird von Kopf bis Schwanz bis zu etwa 75 Zentimeter lang, wobei der Schwanz allein um die 40 Zentimeter misst. Sie verhalte sich entweder ängstlich, kämpferisch und schutzsuchend oder sie sei neugierig. „Angst steht der Neugier im Weg. Unser Training nimmt ihnen die natürliche Angst vor neuen Umgebungen, damit sie neugierig bleiben und lernen, vergrabene Landminen zu identifizieren.“ Finden sie eine Mine, gibt’s eine Futterbelohnung, in der Lernpsychologie nennt man dies Konditionierung. Dies alles dient dem Ziel, dereinst ohne Stress zu arbeiten.
Das Rattentraining besteht aus mehreren Schritten. Der erste bildet die Grundlage für alles weitere. Cindy Fast: „Ist das Tier etwa einen Monat alt und hat es seine Augen geöffnet, fängt die gemeinsame Arbeit bereits an. Wir beginnen, es in den Händen zu halten, zu streicheln, herumzutragen. So gewöhnt es sich an Menschengeruch, lernt, dass wir nicht bedrohlich sind und ihm nie etwas Schlimmes geschehen lassen. Allmählich akzeptiert es uns als eine Art Mutter.“
Nicht immer läuft alles glatt. Rund ums Trainingscamp in Kambodscha leben wilde Affen. Die springen oft von den Bäumen aufs Wellblechdach der Rattenunterkünfte. Ein Höllenlärm! „Da erschrecken selbst wir, man weiß nie, wann sie wieder kommen. Es kostet sehr viel Mühe, dass den Schrecken und die damit verbundene Angst überwinden.“
Am Ende steht der Job als Lebensretterinnen. Wie funktioniert das? Einfach so aufs Feld, das geht nicht. Dem Ratteneinsatz voraus gehen Befragungen von Menschen in betroffenen Gebieten, das Sammeln aller greifbaren Informationen. Der sogenannte Landfreigabeprozess beginnt bei geringsten Anzeichen einer Minenverseuchung. Das Minenräumteam schreitet das umgepflügte Feld mit Metalldetektoren ab und sorgt erst mal für schmale, sichere Gehwege. Die Gefahrenzone neben den Pfaden wird mit Schnüren in Raster eingeteilt. Erst jetzt betritt eine eingeschirrte Minenratte die Szene. Auf den sicheren Wegen auf jeder Seite des Rasterquadrates steht ein Mensch, mit einer dünnen Leine sind sie mit der Ratte verbunden. Geführt vom Minenteam läuft das Tier systematisch hin und her.
Erschnüffelt es Sprengstoff, der von der Minenräummaschine nicht erfasst worden ist, beginnt es mit seinen Vorderfüssen zu scharren und markiert so, wo Sprengstoff im Boden lauert. Die afrikanische Riesenbeutelratte schafft in einer halben Stunde etwa eine Fläche von der Größe eines Tennisplatzes. Nach dem Scharren kommt quasi das Schnurren, denn nach jedem Fund gibt es zur Belohnung einen Leckerbissen.
Meist liegen die Blindgänger in weniger als fünfzig Zentimeter Tiefe. Ist das Feld „abgeschnüffelt“, macht sich das Suchteam mit Metalldetektoren und Minensuchhunden einen letzten Durchgang. Wenn die nichts mehr finden, gilt das Land als sicher. Je nach Größe und Art des Blindgängers, wird er vor Ort entschärft oder anderswo zur Explosion gebracht.
OpferIm Jahr 2024 sind laut Jahresbericht des „Landmine and Cluster Monitor“ (LCM) mindestens 5.757 Menschen in 53 Staaten durch Landminen oder explosive Rückstände getötet oder verletzt worden. Fast ein Viertel mehr als im Vorjahr. 84 Prozent der registrierten Opfer waren Zivilpersonen, davon 1.498 Kinder.
Verseuchte Länder
Insgesamt, so der LCM, sind 58 Länder und andere Regionen durch Landminen verseucht. Die zehn Staaten mit den meisten Opfern sind Myanmar (1.003), Syrien (933), Afghanistan (651), die Ukraine (580), Jemen (499), Nigeria (343), Burkina Faso (308), Mali (174), Äthiopien (106) und der Irak (102). Die Minendichte ist in Syrien seit der Besetzung durch den IS laut LCM besonders hoch.
Hauptverwender
Von Mitte 2023 bis Oktober 2024 wurden laut LCM vom Iran, von Myanmar, Nordkorea und Russland Antipersonenminen eingesetzt. Russland setzt seit seiner Invasion in der Ukraine mindestens dreizehn Typen von Antipersonenminen ein. Die Ukraine selber vermint gegnerische Wege mit Schützenminen; laut Washington Post sind es Minen mit Selbstzerstörungs-Elektronik, die nach einer vorgegebenen Zeit von selber explodieren.
Risikogruppen
Besonders gefährdet durch Landminen und andere Blindgänger sind auch Flüchtlinge, die in ihre verminten Heimatorte zurückkehren, wie aktuell in Syrien. Auch Streumunition stellt eine große Gefahr für Zivilisten dar. Streumunition setzt eine große Zahl von kleinen Sprengsätzen und Blindgängern frei, die dann zwischen den Trümmern und auf den Äckern liegen.
Maßnahmen
Das Ottawa-Abkommen ist seit 1999 ein völkerrechtlicher Vertrag, der Produktion, Einsatz, Weitergabe und Lagerung von Antipersonenminen verbietet. Er enthält zudem Bestimmungen über deren Vernichtung sowie Opferhilfe. Bislang haben weltweit 167 Staaten die Konvention ratifiziert. China, Israel, Russland, die USA, Vietnam sowie 27 weitere Staaten haben nicht unterzeichnet.
Die GICHD, das Internationales Zentrum für humanitäre Minenräumung, weist darauf hin, dass es für das Aufspüren und Räumen von Landminen, Streumunition und anderen nicht explodierten Kampfmitteln keine für alles gültige Methode gibt. Sie hänge ab von der Art der Kampfmittel, vom Gelände, in welcher Tiefe sie liegen, ob die Munition in einer Stadt oder in einem Wald vergraben sei.
Das häufigste Suchinstrument ist der Metalldetektor. Sein Nachteil: Er kann nicht zwischen sprengstoffhaltigem und gewöhnlichem Schrott unterscheiden. Ganz im Gegensatz zur Ratte. Sie lokalisiert nur Gegenstände, die TNT oder einen anderen Sprengstoff enthalten, auf den sie trainiert ist. Andere Materialien ignoriert sie. Deshalb eignen sich Ratten vor allem für spärlich kontaminierte Gebiete. Cindy Fast: „Eine Ratte kann jeglichen Sprengstoff aufspüren, egal ob er in Plastik-, Holz- oder Metallhüllen steckt.“
Bei Tieren wiederum bestimmen Umwelteinflüsse mit. Ist es allzu heiß und die Sonne brennt, verweigern die von Natur aus nachtaktiven Wesen den Job. Einer der Hauptvorteile der afrikanischen Riesenhamsterratte: Sie kann mit ihrem geringen Gewicht von höchstens 1,8 Kilogramm keine Explosion auslösen.
Minenratten arbeiten am besten in Regionen, die klimatisch ihrer afrikanischen Herkunft gleichen – einer der Gründe, weshalb sie in der nördlichen Hemisphäre nicht oder kaum zum Zug kommen. Im Einsatz sind sie aktuell in Kambodscha, Angola und Aserbaidschan. In Aserbaidschan mit seinen Wintertemperaturen von 5 bis 7 Grad können die Tiere nur von März bis November aktiv sein, nachts sind sie drinnen untergebracht. „Apopo“ prüft aber gegenwärtig sowohl in der nördlichen als auch in der südlichen Hemisphäre neue Einsatzmöglichkeiten.
Männlein und Weiblein sind übrigens „gleichberechtigt“, es gibt keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Arbeit. Von den 66 Minensuchratten, die derzeit Blindgänger suchen, sind 29 weiblich. Ebenso sind von den neun Ratten, die kürzlich ihre Ausbildung abgeschlossen haben und jetzt auf ihren Einsatz warten, fünf weiblich. Bis ein Nager eine zertifizierte Sprengstoff-Profischnüfflerin ist, vergeht bis zu einem Jahr. Das kostet bis zu sechstausend Euro.
Cindy Fast, Rattentrainerin und Forscherin
„Nicht alle schaffen es“, sagt Trainerin Cindy Fast im „Apopo’s Visitor Centre“ in Siem Reap. Hier ist auch eine interessante Ausstellung über die Arbeitsfelder der Ratten zu sehen. „Tiere, die sich nicht zur Minensuche eignen, sind oft fürs Erkennen von Tuberkulose tauglich.“ Die Riesenhamsterratte kann in Sputumproben den Geruch des Tuberkulosebakteriums wahrnehmen. Viele Krankheiten haben nämlich einen eigenen Geruch, auf den sich Tiere konditionieren lassen.
Andere Ratten wiederum, die nicht zu hundert Prozent treffsicher sind, treten in Siem Reap als Touristenmagnet auf – als attraktive Botschafter für die Minenthematik. Vor allem aber ist Siem Reap ein Ausgangspunkt für Kambodschas Touristen-Hotspot Nummer eins, Angkor Wat. Die Tempelanlagen gelten als weltweit größtes religiöses Monument mit jährlich Hunderttausenden von Besuchenden.
Auch wir machen einen Abstecher zu den Graubepelzten und beobachten, wie sie schnell über ein nachgebildetes Minenfeld hoppeln. Mitten im Feld ragt ein Metallstück aus dem Boden – eine Minenattrappe. Ein Wärter setzt eines der Tiere auf den ausgestreckten Arm des Reporters, es trippelt mit seinen kleinen Füßchen eilig auf die Schultern, dreht den Kopf in alle Richtungen. Bevor das Tierchen weiterklettert, müssen Besucher Hände und Arme waschen. „Sonnenschutz- und Insektenspray könnten die Tiere krank machen“, sagt die Rattentrainerin. Vielleicht ergeht’s nach dieser intimen Begegnung dem einen oder anderen Bekletterten so wie Cindy Fast: „Sie sind für mich zu echten Freunden geworden, denen ich vertrauen kann. Weil sie so schlau sind, neugierig und individuelle Persönlichkeiten.“
Dank dieser Eigenschaften sind Ratten für lebensrettende Aufgaben geeignet. Im Versuchsstadium sei etwa die Arbeit in eingestürzten Gebäuden. Nach Erdbeben und anderen Naturkatastrophen warten weitere lebensrettende Einsätze. „Die Ratte kann in sehr enge Räume schlüpfen und nach Opfern suchen“, erzählt Cindy Fast. „Sie kommt dorthin, wo Suchhunde zu groß sind. Eine Livekamera mit eingebautem Mikrofon auf dem Rücken der Ratte erlaubt uns, mit verschütteten, noch lebenden Opfern zu sprechen.“
Und es werden immer neue Einsatzmöglichkeiten entdeckt. Eine neue Studie unter der Leitung von Forschern von „Apopo“ verkündete im vergangen November, dass die Riesenhamsterratte darauf trainiert werden könne, Wildtierprodukte zu erkennen. Man hofft, dass der neue „Rattenberuf“ einst an Grenzen und in Häfen den Wildtierhandel bekämpfen kann.
Weshalb überhaupt können Tiere Blindgänger aufspüren? Shimshon Belkin, emeritierter Professor der Hebräischen Universität in Jerusalem, erklärt gegenüber der taz: „Antipersonenminen und andere Munition sind offenbar nicht absolut dicht versiegelt. Deshalb entweichen Sprengstoffgerüche, die sich im Boden anreichern.“ Nicht explodierte Munition setzt ständig gasförmige Spuren frei, ein Abbauprodukt des Sprengstoffs TNT.
Ein Team rund um Belkin forscht an einer weiteren, ziemlich spektakulären Detektionsmethode – mit Kolibakterien. Diese werden genetisch mit natürlich leuchtenden Meeresbakterien verändert und in Kügelchen verpackt, die über potenziellen Minenfeldern ausgebracht werden können. Kommen sie mit Sprengstoffspuren in Kontakt, beginnen sie schwach zu leuchten und markieren so die gefährlichen Standorte. Die Methode ist erst im Versuchsstadium. In Zukunft könnten Drohnen die Bakterien aussetzen; Menschen müssten dann auf der Suche nach Blindgängern nicht mehr in die Nähe gefährlicher Fundorte.

Den gleichen Vorteil bietet ein „Minen-Tierchen“, auf das man ebenfalls nicht ohne weiteres kommt: Honigbienen. Dass die Wunderflieger einen exzellenten Riecher haben, dass ihr Geruchssinn sogar Sprengstoff erkennt, ist kaum bekannt. Erstmals wurde dies 2003 auf einem Minen-Testfeld des US-Militärs im Bundesstaat Missouri gezeigt. Über 90 Prozent aller Minen seien von den Honigbienen gefunden worden, schrieb die Deutsche Ärztezeitung.
Ein Forschungsteam der Universität Zadar in Kroatien rund um die Agronomin Janja Filipi arbeitet derzeit an der Weiterentwicklung des „Bienenradars“. Finden sich in einem Bienenstock verdächtige Spuren, folgen mit Kameras bestückte Minidrohnen den Bienenschwärmen und zeichnen auf, wo die auf Sprengstoff konditionierten Honigbienen landen. Allerdings: Bis heute arbeiten die fliegenden Spürnasen nur im Laborbetrieb und waren noch nie im Ernstfalleinsatz.
Rekordverdächtig oft im Einsatz hingegen war eine Ratte namens Magawa. 2020 wurde dem 70 Zentimeter langen und 1,2 Kilo schweren Tier, als weltweit erster Ratte sogar ein Orden verliehen. Großbritanniens prominente Tierschutzorganisation PDSA ehrte die „Heldenratte“ mit einer Goldmedaille. „Für ihre lebensrettende Tapferkeit und Hingabe an die Pflicht.“ Der Tierorden gilt als vergleichbar mit dem Georgskreuz, der höchsten zivilen Auszeichnung für Tapferkeit im Vereinigten Königreich.
In seiner Karriere habe Magawa mehr als hundert Landminen und andere Sprengstoffe gefunden und damit wahrscheinlich vielen Menschen das Leben gerettet. Nach einem halben Jahrzehnt im Dienste der „Apopo“ ging Megawa am 5. Juni 2021 in Pension. Als er 2022 starb, nahm Apopo auf seiner Webseite mit den Worten Abschied: „Wir alle trauern um Magawa und sind dankbar für die unglaubliche Arbeit, die er geleistet hat.“
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