: Geht es zusammen?
Mit 64 Abgeordneten sind die Linken im Bundestag vertreten. Die taz hat drei von ihnen begleitet: einen marxistischen Lehrer aus Münster, eine aktivistische Sozialarbeiterin und eine, die ihre Worte schon abwägt wie eine Profipolitikerin
Von Stefan Reinecke und Franziska Schindler (Text) und Jens Gyarmaty (Fotos)
Cansın Köktürk muss sich beeilen, wenn sie noch aufs Foto will. Gut 60 GenossInnen stehen auf der ausladenden Treppe des Paul-Löbe-Hauses. Die 31-Jährige schafft es gerade noch so. Sie hat sich im unübersichtlichen Regierungsviertel verlaufen. Es ist ja alles neu an diesem Dienstag nach der Wahl.
Vor ein paar Wochen war der Wiedereinzug der Linken in den Bundestag noch ein vager Traum. Jetzt kommt die neue Fraktion mit ihren 64 Mitgliedern zum ersten Treffen zusammen. Parteichef Jan van Aken wird schon leicht ungeduldig, weil der Fotograf so lange braucht. Die Neuen müssen den Bundestag kennenlernen, das Programm ist straff. Köktürk lächelt selbstsicher in die Kamera. Sie ist Rampenlicht gewohnt. Sie war schon mal in einer Talkshow, damals noch als Grüne. Sie hatte ein Buch über den „Unsozialstaat Deutschland“ geschrieben und verteidigte bei Markus Lanz tapfer das bedingungslose Grundeinkommen.
Als der Fotograf signalisiert, dass er fertig ist, skandieren die GenossInnen „Alerta, alerta, antifascista!“. Ein donnernder Chor, der das Atrium des Paul-Löbe-Hauses füllt. „Alerta, alerta, antifascista!“ heißt: Man will das Sprachrohr der Bewegung sein.
Cansın Köktürk stimmt ein, Bodo Ramelow tritt etwas verlegen von einem Bein aufs andere.
Noch nie in der Geschichte des Bundestags hat es einen solchen Bruch in einer Fraktion gegeben. 51 der linken MdBs sind neu, nur 13 gehörten in der vorigen Legislatur der linken Gruppe an. Fünf waren früher schon mal linke Bundestagsabgeordnete. Viele kennen Parlamente nur aus der Kommunalpolitik, andere nicht mal das. Manche sind heute zum ersten Mal in Berlin. Die Fraktion ist mit 42 Jahren im Schnitt die jüngste im Bundestag, mehr als die Hälfte weiblich und ziemlich zufällig zusammengewürfelt. Sie ist unbelastet vom tief eingravierten Streit der alten Fraktion, aber unerfahren. Kann das funktionieren? Gibt es bald wieder alte Gräben? Wie wollen die Neuen den Schwung der Bewegung ins Parlament tragen?
Ulrich Thoden hat gerade kräftig „Alerta“ skandiert. Gestern unterrichtete der Lehrer aus Münster noch am Berufskolleg in Rheine. Englisch und Philosophie. Der 51-Jährige kennt zwar Kommunalpolitik. Aber er weiß, dass der Bundestag „ein Sprung ins kalte Wasser“ ist. Thoden, drahtig und energisch, sieht man die Müdigkeit nach dem Wahlkampf nicht an.
Viele Linkspartei-Abgeordnete erzählen die gleiche Geschichte. Von jungen Leuten, die noch nicht mal Parteimitglieder waren und Plakate klebten, an Infoständen standen und an Haustüren klingelten. Viele Neue waren elektrisiert von der Sorge, so Thoden, dass „Deutschland nach rechts abdriftet“. Und da hat die Linkspartei die klarste Botschaft: Alerta.
Und jetzt? Kommt nach der Euphorie die Ernüchterung? Thoden sagt: „Wenn wir jetzt den neuen Mitgliedern nur Abplakatieren anbieten, ist das zu wenig.“ Es gelte aber, tote Ortsvereine neu zu beleben. Man müsse „in die Fläche gehen“. Kommunalpolitik sei eine gute Schule für neue GenossInnen, dort gehe es konkret zu. Zum Glück seien in NRW schon im September Kommunalwahlen. Wahlen sollen jetzt offenbar generell als linke Bewegungsbeschleuniger funktionieren. Ein Gros der neuen Fraktion fährt am Mittwoch nach Hamburg, wo am Sonntag gewählt wird. Eine Soligeste.
Sollen Partei und Fraktion Sprachrohr der Antifa-, Mieten- und Klimabewegung sein? Thoden ist skeptisch. Es sei zwar gut, dass die Linkspartei sich zu einem Zwitter entwickelt habe „von der Partei zu Partei und Bewegung“. Die Partei brauche Bewegungen und dürfe nicht paternalistisch auftreten. „Aber wir sind nicht nur das Megafon.“
Thoden ist 2018 aus der SPD ausgetreten. „Die letzte Groko war eine zu viel“, sagt er. „Es gibt einen Unterschied zwischen Pragmatismus und wirklich gar nicht kämpfen.“ Thoden klingt in vielem, nicht zuletzt beim Lob der Kommunalpolitik, geerdet, pragmatisch, abwägend. Ukraine? Er ist wie die meisten Linken gegen Waffenlieferungen. Aber natürlich müsse „die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt“ werden. Die Vorstellung, dass „Europa zuschaut, wie die Ukraine aufgeteilt wird“, findet er „unerträglich“. Die Solidarität mit Kiew hat aber auch Grenzen. „Meine Seite ist die Seite des Friedens, nicht die der Ukraine oder Russlands.“
Einerseits, andererseits.
Es gibt noch ein andererseits. Linke, sagt er, brauchten ideologische Fundamente. Zum Beispiel nur gefühlslinks gegen zu hohen Mieten zu sein, reiche nicht. Um die Hintergründe von zu hohen Mieten zu verstehen, brauche es auch „Kapitalismuskritik und Analyse auf marxistischer Basis“. Thoden ist Mitglied der Kommunistischen Plattform (KPF), einer kleinen, überalterten, mit der DKP verbandelten Organisation mit Hang zu Rechthaberei und Sektierertum. Bekämpft werden mit Hingabe „BRD-Staatsräson“ und „Nato-verharmlosende Positionen“ in der Linkspartei. Die Aufgabe von Strömungen wie der KPF sei es, so Thoden, auch „Bildungsangebote für Neuglieder zu schaffen“. Man wird sehen, ob sich Zehntausende junge NeugenossInnen nach leninistischen Schulungen sehnen, um ihren Gefühlssozialismus auf amtlich wissenschaftliches Niveau heben zu lassen. „Ich war auch in der SPD Marxist“, sagt Thoden, der meist wie ein SPD-Linker klingt, mit viel Lehrer, viel Münster und Dosen von Plattform-Marxismus. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Aus der KPF ist er in der wiederauferstanden Linksfraktion, so Thoden, nach seiner Kenntnis „der Einzige“.
Sahra Mirow hat gerade den ersten Tag in Berlin hinter sich, inklusive konstituierender Fraktionssitzung und Verabschiedung der Linken-Abgeordneten, die nicht mehr angetreten sind. Wenn der neue Bundestag spätestens am 25. März zum ersten Mal zusammenkommt, wird sie der gleichen Fraktion wie ihr politisches Vorbild angehören. „Ich war immer ein Gregor-Gysi-Fan“, sagt die 41-Jährige und lacht.
Gysi findet meist klare Worte. Die Heidelberger Abgeordnete formuliert vorsichtig. Und sie deutet lieber an, dass sie einen reformorientierten Kurs einschlagen will. „Ganz grundsätzlich müssen wir wieder auch parlamentarische Mehrheiten links von der CDU haben“, sagt Mirow.
In der neuen Fraktion dürften das nicht alle so sehen. Klar, da ist Ramelow, der in Thüringen jahrelang mit Grünen und SPD koalierte. Aber zu den neuen Abgeordneten gehört auch die Krankenpflegerin Lea Reisner, die in der Seenotrettung aktiv war und Anarchie als ihre Utopie bezeichnet. Oder der Neuköllner Ferat Koçak, der maßgeblich dank der Unterstützung von AktivistInnen sozialer Bewegungen das Direktmandat gewann. Ob sie bei Annäherungen an SPD und Grüne mitgehen würden?
Zunächst steht aber die Verteilung der Ausschüsse an, auf die sich die 64 einigen müssen. „Das hat noch Zeit, die Besetzung werden wir gemeinsam besprechen“, sagt Mirow, wieder diplomatisch. Am liebsten würde sie im Ausschuss für Arbeit und Soziales oder zum Thema Wohnen arbeiten. „Aber auch andere Themen kommen infrage.“ Thoden, der gern Friedens- oder Verkehrspolitik machen würde, kommt sie damit schon mal nicht in die Quere.
Sahra Mirow ist in einfachen Verhältnissen in Lübeck aufgewachsen und die Erste in ihrer Familie, die studiert hat. „Die Gerechtigkeitsfrage war für mich immer wichtig“, erklärt sie. Strukturelle Bedingungen zu bekämpfen, die Ungleichheit schaffen, das treibe sie an. Mirow will damit auch dem Rechtsruck „die materielle Basis entziehen“. Wobei die Kämpfe gegen Diskriminierung und für Klimaschutz nicht gegen soziale Fragen ausgespielt werden dürften.
Ukraineunterstützung, Nahost, Identitätspolitik oder Klassenkampf – es gibt viele Themen, über die sich die neue Linkenfraktion zerlegen könnte, so wie es die alte tat. Mirow kennt die Konfliktlinien, seit 2014 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Heidelberger Büro der Linken-Abgeordneten im Bundestag, zuletzt für Gökay Akbulut. Eine Gefahr, dass es wieder zur Spaltung der Fraktion kommen könne, sieht sie „ganz und gar nicht“: „Wir gehen da alle rein mit einem wirklich frischen Start.“
In puncto Ukraine verweist sie auf das Wahlprogramm – keine Waffenlieferungen, dafür gezielte Sanktionen gegen Putin und seine Getreuen. „Das wird Richtschnur für uns sein.“ Was das Streitthema Palästinasolidarität angeht, habe man „eine sehr klare Haltung in Partei und Fraktion“, beschlossen beim Parteitag im vorigen Oktober. Also kann nichts mehr schiefgehen?
Cansın Köktürk kommt aus der „schönsten Stadt der Welt“, sagt sie. Aus Bochum. Dort ist sie groß geworden, zweisprachig. Ihre Eltern kommen aus der Türkei, der Vater ist Bauingenieur. Linke Politik war zu Hause immer Thema. „Bleibt kritisch“, das hat sie von ihrer Familie gelernt.
Dass sie sperrig sein kann, hat sie bei den Grünen gezeigt. 2021 machte sie dort eine kurze, steile Karriere. Sie attestierte der Ampel einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit, galt als „grüne Rebellin“, überwarf sich mit ihrem Kreisverband und trat wieder aus. Nachdem Sahra Wagenknecht die Linkspartei verlassen hatte – „ein Befreiungsmoment für die Linke“ – trat sie dort ein. Köktürk ist eloquent und verfügt über ein robustes Selbstbewusstsein.
„Mein Opa hat immer schon gesagt, dass ich mal Politikerin werde.“ Wie sieht sie das? „Ich habe Schwierigkeiten damit, mich als Politikerin zu bezeichnen“, sagt sie. Sie hat eine Notunterkunft für Geflüchtete geleitet. Ausgehend vom Elend, das sie dort sah, denkt sie Politik. Soziale Arbeit sei ihre Berufung. Aber um „greifbare Veränderung zu erreichen“ brauche es das Parlament. Deshalb ist sie jetzt in Berlin.
2021 sagte sie, dass sie „von Fraktionszwang und Hierarchien in einer Partei nicht viel hält“, und meinte die Grünen. Eine Fraktion, in der jeder macht, was er will? Eine Partei ohne oben und unten? Dieser Satz dürfte jeden Parlamentarischen Geschäftsführer und jede Parteichefin sorgenvoll stimmen. Er klingt mehr nach Spontibewegung als nach institutioneller Politik.
In der Linksfraktion, glaubt Köktürk, werde man „Meinungsunterschiede wertschätzend austragen“. Richtig ist: Der Kompromissdruck ist in der Opposition weniger drängend.
Köktürk hält Bewegung und Partei nicht für einen Widerspruch. „Das geht Hand in Hand. Ich bin Aktivistin. Politik fängt nicht im Parlament an. Meine Aufgabe ist es, die Themen der Bewegung in den Bundestag zu bringen.“ Sie ist vielleicht eine der schillerndsten Figuren der Fraktion, eigensinnig und sendungsbewusst.
Die Ukrainepolitik? Und Gaza? Der Spagat zwischen KPF, die mit dem Handwerkszeug Lenin’scher Imperialismustheorie arbeitet, und Ramelow, der für schwere Waffen für die Ukraine votiert hat, ist groß. Etliche der NeugenossInnen finden es selbstverständlich, dass man der Ukraine alles liefert, was sie braucht. Köktürk sieht Waffenlieferungen skeptisch. „Waffen beenden keine Kriege, sondern Verhandlungen.“ Die Linkspartei müsse „eine starke Stimme für Abrüstung sein“. Klar ist ihre Position zu Gaza und Israel. Den Kompromiss der Linkspartei im Herbst fand sie gut. Aber: „In Gaza hat ein Genozid stattgefunden.“
Es wird mit der Kompromissfindung in der Fraktion vielleicht doch nicht so einfach.
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