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Experte über EU-Verteidigungspolitik„Amerika behandelt uns als Beute“

Verteidigungsexperte Pierre Servent warnt vor der gefährlich werdenden Weltpolitik. Deutschland und Frankreich spielten in Europa eine zentrale Rolle.

Eine Gedenkfeier in Chicago erinnert zum dritten Jahrestag an die Toten des russischen Angriffskriegs Foto: Vincent Alban/reuters
Interview von Barbara Oertel

taz: Herr Servent, seit über einem Monat sitzt Donald Trump wieder im Weißen Haus. In welchem Universum bewegen wir uns gerade?

Pierre Servent: Die Europäer, Amerikaner, ja die ganze Welt durchläuft eine Periode großer Brutalität. Trump reiht sich ein in eine Gruppe von Charakteren wie Wladimir Putin, Xi Jinping und Recep Erdoğan. Sie gehen davon aus, dass das Recht etwas für die Schwachen ist und Stärke die Welt dominieren soll.

taz: Was ist die Ukraine für Trump?

Im Interview: Pierre Servent ​

Jahrgang 1954, Historiker, Verteidigungsexperte, Autor. Er war Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums.

Ser­vent: Ein Nichts. Für Trump gibt es Gewinner und Verlierer. Die Ukraine ist ein Land der Verlierer. Washington will sich dieses Problems so schnell wie möglich entledigen und auf dem Weg dorthin maximal abkassieren. Und dabei wird gelogen wie gedruckt. Trumps Verhalten gegenüber der Ukraine grenzt an Erpressung.

taz: Was halten Sie vom Rohstoffabkommen zwischen den USA und der Ukraine?

Servent: Das Abkommen könnte trotz allem eine gute Nachricht sein, denn Trump würde zweifellos seine Investitionen schützen wollen. Ich weiß zwar, dass Moral bei diplomatischen Fragen oder Lösungen von Konflikten selten eine Rolle spielt, aber ich finde die Haltung der amerikanischen Regierung besonders unmoralisch, insbesondere wenn wir sehen, dass Präsident Trump die Narrative von Russlands Präsidenten Wladimir Putin vollständig übernommen hat. Kurz gesagt: Dies alles symbolisiert eine Welt, die immer härter wird, in der die Beziehungen immer gewalttätiger werden. Amerika behandelt uns, die Europäer, nicht als Verbündete, sondern einfach als eine Beute, als Kunden.

taz: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich mit Trump getroffen. Hat das etwas bewirkt?

Ser­ven­t: Es gibt kein konkretes Ergebnis, Trump hat sich zu nichts Konkretem verpflichtet. Er blieb äußerst ausweichend und deshalb kann auf dieser Ebene von einem Wendepunkt keine Rede sein. Einen solchen gab es jedoch trotzdem: Washingtons Abstimmungsverhalten in der UNO. Historiker werden diesen Punkt in 20 Jahren als eine Form des Verrats seitens unserer amerikanischen Verbündeten bezeichnen.

taz: Sie sprechen die russlandfreundliche Resolution an, die die USA in den UN-Sicherheitsrat eingebracht haben, Frankreich hatte sich dabei enthalten. Macron hatte 2021/22 auch noch eine andere Sicht auf die Ukraine …

Ser­ven­t: Er hatte Illusionen und ließ sich von der Natur des russischen Regimes und Putins strategischen Zielen täuschen. Macron hatte vor dem Ausbruch des Krieges geglaubt, Putin davon überzeugen könnten, nicht einzumarschieren. Nach dem 24. Februar 2022 hing er noch dem Glauben an, bei Verhandlungen vermitteln zu können. Das war ein schwerwiegender Irrtum. Und dann kamen die abscheulichen Verbrechen in Butscha, sie öffneten denen im Élysée die Augen. Jetzt gibt es kein Vertun mehr: Frankreich unter Macron gehört zum Lager der Freiheit, dem das Lager der Barbarei, der Putin’schen Administration gegenüber steht. Und eins noch: Ich denke, dass die EU Frankreich noch nie so sehr gebraucht hat wie jetzt.

taz: Warum?

Ser­ven­t: Ich sage das ohne Arroganz, aber Frankreich ist ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, eine Atommacht und wir haben eine einsatzbereite kampferprobte Armee.

taz: Wenn wir auf die Innenpolitik blicken, sitzt die Regierung von François Bayrou nicht gerade fest im Sattel …

Servent: Das genau ist das Paradox. Seit dem Bestehen der Fünften Republik hatten wir noch nie so instabile politische Verhältnisse. Sich ständig zu fragen, ob die Regierung Bayrou am nächsten Morgen noch im Amt ist oder nicht, das ist ein echter Schwachpunkt.

taz: Was können Sie über Russlands Strategie und Taktik sagen?

Ser­vent: Ei­ne Strategie der Beherrschung dessen, was Moskau sein nahes Ausland nennt. Dazu gehören die Ukraine, Moldau, Georgien und morgen die baltischen Staaten. Sollten sich die Amerikaner aus der Nato zurückziehen, dann wird Putin eine Art neues Zarenreich wiederherstellen wollen. Ein Ziel, das gottgegeben ist. Was die Taktik angeht, da ist Putin in Schwierigkeiten. Zwei Beispiele: 700.000 tote oder verletzte russische Soldaten, ein kolossaler Preis, stehen überschaubaren Gebietsgewinnen gegenüber, so tragisch diese für die Ukrai­ne auch sind. Der russischen Wirtschaft geht es schlecht, die Kriegswirtschaft zerstört alle anderen Wirtschaftszweige des Landes, die Inflation steigt. Aus diesen Gründen könnte Putin an einem Waffenstillstand interessiert sein.

taz: Zunächst ein Waffenstillstand, dann vielleicht ein Friedensabkommen. Könnte das über die Köpfe von Kyjiw und den anderen europäischen Staaten hinweg ausgehandelt werden?

Servent: Selbst wenn Trump versucht sein sollte, das zu tun, halte ich das für absolut unmöglich. Die Europäer und die Ukrai­ner werden standhaft bleiben werden, denn unsere Sicherheit steht auf dem Spiel.

taz: Würde Putin auf ein ­Friedensabkommen überhaupt eingehen?

Servent: Er braucht einen Waffenstillstand, der ihm einen Wiederaufbau und die Schaffung einer Armee ermöglicht, die wieder angreifen kann. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, dass europäische Truppen in der Ukraine stationiert werden, insbesondere wenn diese Soldaten auch von den Atommächten Frankreich und Großbritannien gestellt werden und die Einhaltung eines Friedensabkommens durchsetzen müssten. Deshalb wird Putin ein solches Abkommen nicht unterzeichnen.

taz: Wie könnten Sicherheitsgarantien konkret aussehen?

Ser­v­ent:­ Die Sicherheit in der Ukraine könnten europäische Armeen unter Führung der Franzosen und Briten gewährleisten. Diese Truppen wären in der Ukraine präsent, nicht auf der alten Konfrontationslinie an der Seite der Ukrainer. Im Falle eines Friedensschlusses wird es um die aktuelle Konfrontationslinie geben. Daher werden die europäischen Truppen weiter im Hinterland stehen, um die Russen davon abzuhalten, den Frieden zu brechen. Denn niemand glaubt Putins Wort. Der Beitrag der USA könnte darin bestehen, die Europäer in der Ukraine beim Transportwesen, der Logistik und mit geheimdienstlichen Erkenntnissen zu unterstützen. Damit würde die Glaubwürdigkeit der Garantien erhöht.

taz: Welche Rolle spielt Polen, das sich mit Deutschland und Frankreich in dem Konsultationsforum Weimarer Dreieck zusammengeschlossen hat?

Servent: Polen erscheint mir außerordentlich wichtig. Mit Donald Tusk gibt es dort einen Regierungschef, der ein bemerkenswerter Europäer ist. Aber das Land muss einen ideologischen Wandel durchlaufen.

taz: Nicht nur das Engagement in der Ukraine, sondern auch die Verteidigung der europäischen Staaten kostet Geld. Kann Europa das ohne die USA leisten?

Servent: Die letzten Militärhilfen unter Biden reichen noch für maximal sechs bis acht Monate. Danach werden die Hilfen Europas allein nicht mehr ausreichen. Eine Lösung könnte ein Kredit in Höhe von 500 bis 600 Milliarden Euro sein sowie 250 Milliarden Euro aus eingefrorenen russischen Vermögen. Bisher werden nur die Zinsen verwendet, aber ich bin für Konfiskation. Übrigens: Zu Beginn des Krieges hat die Ukraine zwischen 5 und 10 Prozent dessen, was militärisch benötigt wurde, aus eigener Kraft gestemmt. Heute liegt dieser Werte schon bei 30 Prozent, und da geht noch mehr. Angesichts des amerikanischen Rückzuges müssen wir trotzdem tun, was wir nur können. Das wird europäischen Politikern viel Mut und der Bevölkerung viel Klarsicht abverlangen.

taz: Hat der wohl nächste deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz diesen Mut?

wochentaz

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Ser­v­ent:­ Las­sen Sie mich ein paar Worte zu Olaf Scholz sagen. Sein Problem war Angst vor einem dritten Weltkrieg und Angst um sein Volk. Er erinnerte mich eher an einen Notar. Merz scheint das Gegenteil von Scholz zu sein. Er kann die deutsch-französische Partnerschaft neu beleben. Die EU braucht den deutsch-französischen Motor, übrigens genauso, wie sie auch die Briten braucht.

taz: Sollte Deutschland in Europa ein wichtigere Rolle spielen?

Servent: Wir brauchen Deutschland, allerdings mit einer Armee, die fähig ist zu kämpfen. Und verzeihen Sie mir, ich sage es etwas unverblümt: Das demokratische Deutschland darf keine Angst vor einer Konfrontation haben, weil es das Dritte Reich gab. Die nächsten vier bis fünf Jahre werden entscheidend sein. Entweder werden wir in Stücke gerissen, oder es gelingt uns, die Werte, an denen wir hängen, zu bewahren.

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1 Kommentar

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  • "Das demokratische Deutschland darf keine Angst vor einer Konfrontation haben, weil es das dritte Reich gab."



    Ich befürchte, genau das ist der Kern des deutschen Traumas. Und das lässt sich nicht überwinden, indem man mal schnell eine Zeitenwende ausruft.



    Das Problem:Zeit zur Bewältigung haben wir nicht.