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Nein zum Krieg und zur Zombie-Sprache

Sergej Lebedew zeigt mit seiner Anthologie neuer russischer Literatur, dass die in alle Welt versprengte Exilintelligenzija noch viel zu sagen hat

Blumen in einem Moskauer Park nach der Beerdigung von Alexei Nawalny Foto: Emil Gataullin/imago

Von Katharina Granzin

Heute ist die russische Sprache voll von toten Worten, von Mörder-Worten, von Worten, die Hass und Feindschaft säen, von Lügen-Worten, von Worten der Schande. Von Zombie-Worten.“ So schreibt der Autor Sergej Lebedew im Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes „Nein!“, dessen Titel gegen den Krieg anschreit, sich aber gleichzeitig auch als grundsätzlicher Widerstand gegen die Kaperung der russischen Sprache durch eine diktatorische, imperialistisch agierende Staatsmacht verstehen lässt. Die Anthologie versammelt Texte, die sämtlich nach dem vollumfänglichen Einmarsch Putins in die Ukraine im Jahr 2022 entstanden sind – die meisten wurden im Exil verfasst. Ihre AutorInnen leben jetzt in Deutschland, Georgien, Portugal, Tschechien, England, Israel, der Schweiz, den USA, der Türkei, Schweden, Finnland … Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

In diesem Sammelband wird schmerzhaft sichtbar, dass der größte Teil der kritischen literarischen Öffentlichkeit Russland verlassen hat; häufig unter großen persönlichen Opfern. In deutschsprachigen Medien hört man allgemein recht wenig von diesen russischen Exilschicksalen, vor allem wenn die Betroffenen im Westen bisher noch nicht sehr bekannt waren. Auf die Mehrheit der AutorInnen dieser Anthologie trifft das zu. Drei Beiträge werden unter Pseudonym veröffentlicht, denn offenbar harren ihre UrheberInnen in Russland aus.

Bei der Lektüre wird auch deutlich, wie wenig wir eigentlich mitbekommen von den gesellschaftlichen und privaten Verwerfungen, die der Krieg gegen die Ukraine in Russland selbst anrichtet. Wer im Land lebt, kann sich nicht gefahrlos kritisch äußern, und wer es ins Ausland geschafft hat, dessen Stimme verliert sich in der Ferne.

Die literarische Bandbreite der in „Nein!“ versammelten Texte ist groß. Nicht alles sind Prosastücke, auch Lyrik ist dabei und sogar Dramatik, zum Beispiel der grandiose Einakter „Wanja lebt“ der Autorin Natalia Lizorkina, der schon vorher in verschiedene Sprachen übersetzt worden ist und bereits ein eigenes Leben auf westeuropäischen Theaterbühnen führt.

Sergej Lebedew (Hg.): „Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg“. Aus dem Russischen von Andreas Weihe, Franziska Zwerg, Christiane Körner, Maria Rajer, Nataliya Bakshi und Ruth Altenhofer. Rowohlt, Hamburg 2024, 384 Seiten, 28 Euro

Unter den Prosatexten wiederum gibt es sowohl fiktionale Texte als auch solche von autobiografischem (beziehungs­weise autofiktionalem) Charakter. Jana Kutschina erzählt in „Die Verliebten werden mich verstehen“ am eigenen Beispiel vom prekären Leben gesellschaftlicher Minderheiten in Russland, Rita Loginowa schreibt über ehrenamtliches Engagement in der Aidshilfe in Sibirien, Lera Babizkaja vom Exildasein in Portugal und enger familiärer Bindung nach Russland trotz entgegengesetzter politischer Ansichten. In sehr vielen Texten, fiktional oder nicht, taucht dieses Motiv auf – die Schwierigkeit, miteinander zu sprechen, die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verstehen, oft der Abbruch jeglicher Kommunikation.

Die wenigen im Land verbliebenen, unter Pseudonym schreibenden AutorInnen verarbeiten das Leben in Russland nach Kriegsbeginn sehr eindrucksvoll. In Boris Klads Erzählung „Ein Mittel gegen Alzheimer“ erleben wir eine absurde Begebenheit aus dem heutigen Moskauer Alltag: Weil man allzu schnell verhaftet werden kann, wenn man symbolisch Blumen an Denkmälern für Ukrainer ablegt, fährt das Erzähler-Ich mit seiner alten Mutter auf einen Friedhof, um anhand einer von Exilanten entwickelten App „ukrainische“ Gräber aufzusuchen und dort Blumen zu verteilen – ein Erlebnis, das die demente Mutter in überraschender Weise belebt. Und in der surrealistisch-satirischen Erzählung eineR AutorIn mit dem märchenhaften Namen Moroska Morosowa wird die russische Märchenfigur Baba Jaga vor Gericht gestellt und in einen jener Glas-Schaukästen gesteckt – wir kennen sie aus den Fernsehnachrichten –, in denen man aus politischen Gründen Angeklagte während ihrer Prozesse ausstellt.

In einer Erzählung wird Baba Jaga vor Gericht gestellt und in einen jener Glas-Schaukästen gesteckt, wiewir sie aus den Nachrichten kennen

Es spricht sehr für den Herausgeber, dass er den Band mit zwei Texten abschließen lässt, in denen die Sprach(en)frage sozusagen von der anderen Seite betrachtet wird. Die in Udmurtien geborene Lena Beljajewa, die seit dem Ukrainekrieg begonnen hat, „ihre Muttersprache Udmurtisch zu lernen“, wie es in der biografischen Notiz heißt, führt in ihrem Dramenfragment „Russisch als Fremdsprache“ leere Sprachhülsen ad absurdum. Und die tartarische Autorin Dinara Rasuleva unterzieht in einem autobiografischen Text die eigene Russifizierung einem kritischen Rückblick und erzählt, wie sie erst als Erwachsene begann, ihre Muttersprache auch als Schriftsprache zu entdecken, zu schätzen und in sich zu entwickeln.

Es ist eine wunderbare Paradoxie, dass dieses neuentdeckte Interesse für die unterdrückten Sprachen des Vielvölkerstaats Russland von Putins Einmarsch in die Ukraine so befeuert wird. Das könnte, falls die Tendenz bestehen bleibt, immerhin bedeuten, dass dieser großangelegte Versuch, den alten russischen Imperialismus gewaltsam wiederzubeleben, gleichzeitig für den Abbau des kulturimperialistischen Denkens sorgt – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. Auch für die russische Sprache wäre es ja viel schöner, irgendwann in Zukunft nicht mehr als Sprache ungeliebter Kolonisatoren wahrgenommen zu werden.

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