piwik no script img

„Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza“

Elia Ayoub, 33 Jahre alt, libanesisch-palästinensischer Postdoktorand, politischer Analyst und Podcaster. Er lebt in Großbritannien.

Der Völkermord an den Palästinensern in Gaza begann eine Woche vor der Geburt meiner Tochter. Die ersten viereinhalb Monate verbrachte sie auf der Neugeborenen-Intensivstation, sie wurde mit 640 Gramm und 26 Zentimetern geboren.

Die Videos von Frühchen in Gaza, die zur selben Zeit wie sie im Brutkasten lagen, haben mich sofort beschäftigt. Die meisten dieser Babys wurden nicht so früh geboren wie mein Kind, aber diese Seelen waren immer weitaus mehr gefährdet als sie.

Da unsere Situation unglaublich prekär war, hatte ich vorgehabt, mich vor den Nachrichten aus Gaza abzuschirmen, um meine Energie für meine Tochter zu bewahren. Und auch, weil ich damit rechnete, dass der Libanon irgendwann von diesem Albtraum heimgesucht würde. Menschen, die im Libanon leben, erwarten immer Gewalt in naher Zukunft. Die Gegenwart wird nur als eine „Zwischenzeit“ erlebt, bis die nächste Runde der Gewalt alles wieder infrage stellt.

Es war aber unmöglich, die Nachrichten auszublenden. Also habe ich mir vorgenommen, mir die Aufnahmen aus Gaza nicht anzusehen, wenn ich mit meiner Tochter in einem Raum bin. Auch das war nicht möglich, also habe ich es zumindest so weit wie möglich minimiert: keine Videos von sterbenden oder toten Kindern, während ich auf der Babyintensivstation war.

Es war schwierig. Ich wollte irgendwie den Völkermord „verstehen“, mein Bewältigungsmechanismus. Ich las so viele Artikel in so vielen Sprachen wie möglich und tauschte mich stundenlang mit Freunden aus der Region aus, deren Gedanken ich schätze.

Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza. Das ist etwas, auf das ich keinen Einfluss habe, aber ich kann es nicht ignorieren, und ich will es auch nicht. Jeder Atemzug, den sie bisher in ihrem Leben getan hat, tut sie in einer Welt, in der Israel Kinder wie sie ermordet, und das ist eine Welt, in der ich als ihr Vater bestehen muss. Alles andere wäre ihr gegenüber unfair, denn ich würde ihr das Rüstzeug vorenthalten, das sie braucht, um die Welt zu verstehen, die sie erbt.

Sie wird eines Tages erfahren, dass sie selbst Libanesin und Palästinenserin ist. Dass ihr Urgroßvater väterlicherseits im Exil lebte. Sie wird auch sehen müssen, dass das Land, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzt, Italien, zu denjenigen gehört, die den Staat Israel mit Mitteln ausstatten, um Kinder wie sie zu töten.

Ich möchte, dass sie in der Lage ist, ein starkes Gefühl für Recht und Unrecht zu haben. Das beginnt mit einem belastbaren, grundlegenden Wissen über die jüngste und ferne Vergangenheit. Ich möchte, dass sie die Fallstricke älterer Generationen vermeidet, die die Welt nach dem Kalten Krieg mit ihrem neoliberalen Kapitalismus und der Dominanz einer Handvoll Regierungen über alle anderen als selbstverständlich betrachtet haben.

Um ein moralischer Mensch zu sein, muss sie sich mit einer Reflexion James Baldwins auseinandersetzen: „Die Kinder gehören immer uns, jedes einzelne von ihnen, überall auf der Welt […], wer das nicht erkennt, ist vielleicht unfähig zur Moral.“

Sie wird realisieren, dass Israel als Nächstes den Libanon angegriffen hat. Das Land, in dem ihr Vater aufgewachsen ist, in das ihr Urgroßvater verbannt wurde und in dem ihre beiden Großeltern als Mitglieder des libanesischen Roten Kreuzes fünfzehn Jahre Bürgerkrieg überlebt haben. Sie werden sich nie kennenlernen, da mein Opa 2020 starb. Ein Mann, der bis er 80 Jahre wurde im ständigen Exil lebte und dann starb. Ich spüre seine eindringliche Präsenz, und sie wird das auch spüren.

„Die Gegenwart ist eine Zwischenzeit, bis die nächste Runde der Gewalt alles wieder infrage stellt“

Wir hatten das Privileg, in einer stabilen Umgebung in einem gut ausgestatteten Krankenhaus zu sein. Ich habe es vermieden, dem Krankenhauspersonal gegenüber ihre palästinensische Herkunft anzusprechen. Wegen der Haltung Europas, das „Recht auf Selbstverteidigung“ Israels zu unterstützen, kam ich zu dem Schluss, es wäre besser, wenn dieses Frühchen noch nicht mit den Folgen der weißen Vorherrschaft konfrontiert wird – das wird sie später noch. Als Araber habe ich über dreißig Jahre Erfahrung im Maskieren: Ich spreche Französisch. Keine Kufija außerhalb des Hauses und keine Shirts mit arabischer Schrift, nur für den Fall.

Das bedeutet auch, dass sie, so schwierig es auch sein wird, daran denken muss, dass diejenigen, die den Völkermord begehen, selbst sehr menschlich sind. Es gibt nichts, wozu sie fähig sind, wozu sie nicht auch selbst fähig wäre. Sie muss sich entscheiden, nicht zu dieser Person zu werden.

Netanjahus Wunsch, an der Macht zu bleiben, ist moralisch nicht höher zu bewerten als das Existenzrecht eines Kindes. So einfach sollte es sein. Aber die Macht wird von einer Handvoll Menschen ausgeübt, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist ebenso mittelmäßig wie zerstörerisch, und das macht alles noch unerträglicher.

Als ich auf der Neugeborenen-Intensivstation an ihrer Seite war, konnte ich Baldwins Überlegungen bis ins Mark nachempfinden. Die Kinder in Gaza waren auch meine Kinder. Ich konnte nichts tun, um sie zu retten. Dieses kostbare Leben, das man kaum kennengelernt hat, die Dinge, die man ihnen zeigen möchte, wie man sie beschützen und pflegen möchte. Was passiert im Kopf, wenn man feststellt, dass die Welt, in der man lebt, in ihrer verarmten Vorstellungskraft keinen Platz für einen selbst oder das eigene Kind hat? Was macht das mit dir als Eltern?

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen