: „Der Albtraum für die Kinder ist noch nicht vorbei“
Wie beeinflussen Krieg und Krisen Familien? Menschen aus dem Libanon erzählen, wie sie mit ihren Kindern über traumatische Ereignisse sprechen und wie sie selbst damit umgehen, als Eltern keine Sicherheit geben zu können
![](https://taz.de/private/picture/6067767/516/1370862.jpg)
Interview Julia Neumann
taz: Nach dem 7. Oktober 2023 hat Israel seine Angriffe auf die Hisbollah im Libanon verstärkt. Das hat vor allem auch die Zivilbevölkerung getroffen. Über 4.000 Menschen wurden getötet. Im Oktober ist das israelische Militär in den Libanon einmarschiert, seit dem 27. November gibt es einen temporären Waffenstillstand. Wie geht es der Bevölkerung heute?
Rasha Chedid: Der Krieg hatte 1,2 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, darunter 400.000 Kinder. Viele Familien haben ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlage und ihre Angehörigen verloren. Schulen wurden zu Notunterkünften umfunktioniert, sodass viele Kinder keinen Zugang zu Bildung hatten. Mittlerweile sind zwar viele in ihre Häuser zurückgekehrt, aber rund 113.500 Menschen leben weiterhin außerhalb ihrer Heimatorte. Diese Familien haben oft keinen Ort, an den sie zurückkehren können. Selbst Kinder sind gezwungen, arbeiten zu gehen, um zu überleben.
taz: Wie geht es den Kindern, die in ihre Dörfer zurückkehren?
Rasha Chedid: Die meisten Häuser sind zerstört. Überall können nicht explodierte Sprengkörper liegen. Das ist eine große Gefahr. Die Infrastruktur für die Wasserversorgung ist beschädigt. Viele Kinder können nicht in die Schule, was ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden beeinträchtigt.
taz: Wie ist die Lage im Südlibanon, der besonders stark zerstört ist?
Rasha Chedid: Marktplätze und Geschäfte sind zerstört, das erschwert den Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Wasser. Die Schulen sind nicht in Betrieb, und die Kinder haben angesichts der weit verbreiteten Zerstörung um sie herum mit psychischen Problemen zu kämpfen. Alles Vertraute ist zerstört, wie Spielplätze und Orte, an denen sie sich mit Freunden trafen.
taz: Ist der Krieg vorbei?
Rasha Chedid: Es gibt derzeit einen Waffenstillstand, aber die israelische Armee verstößt immer wieder dagegen. Zum Beispiel gibt es die Einigung, dass die israelischen Streitkräfte sich aus den Dörfern zurückziehen, damit die Vertriebenen sie betreten können. Doch das macht sie nicht überall. Die Menschen brauchen immer noch Hilfe. Der Albtraum für die Kinder ist noch nicht vorbei.
taz: Wie helfen Sie Kindern und Familien?
Rasha Chedid: Wir verteilen lebenswichtige Dinge wie Matratzen, Decken und Winterkleidung. Wir verbessern die Wasserversorgung und reparieren sanitäre Einrichtungen, geben Bargeld und Nahrungsmittel aus.
taz: Wie berücksichtigen Sie mentale Gesundheit?
Rasha Chedid: Wir integrieren psychosoziale Dienste in alle unsere Programme und bieten Kindern und Betreuenden psychosoziale Unterstützung. Zum Beispiel gestalten wir kinderfreundliche Räume mit Spielzeug oder Bastelmaterial. Dort bekommen sie auch emotionale und pädagogische Unterstützung.
taz: Wie gehen Sie mit Traumata um?
Rasha Chedid: Kinder zeigen Anzeichen von Stress wie Hyperaktivität, Rückzug, Aggression oder Panikattacken. Unsere Programme gehen auf diese Verhaltensweisen ein. Wir bieten ein sicheres Umfeld, in dem Kinder ihre Gefühle ausdrücken und die emotionale Belastung verarbeiten können, die durch die örtliche Vertreibung entstanden ist.
Rasha Chedid,amtierende Landesdirektorin und Finanz- und IT-Direktorin von Save the Children Libanon. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, dass die Gelder der Organisation effektiv eingesetzt werden, um lebensrettende Programme durchzuführen und die Rechte der Kinder im Libanon zu wahren. Sie arbeitet daran, langfristige Lösungen für Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu schaffen.
taz: Sind diese Anzeichen mit dem teilweisen Waffenstillstand zurückgegangen?
Rasha Chedid: Das hängt vom Kind und dem Ort ab. Insgesamt kann man sagen, dass die sich überlagernden Krisen – wirtschaftlicher Zusammenbruch, Corona, die Explosion in Beirut im Jahr 2020, Cholera und jetzt der Krieg – die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder stark beeinträchtigt haben. Die Schulausbildung ist nun bereits seit über sechs Jahren unterbrochen. Das ist ein großes Problem.
taz: Welche Bewältigungsstrategien gibt es für Eltern?
![](https://taz.de/private/picture/6067767/516/1370863.jpg)
Rasha Chedid: Wir ermutigen Eltern, ihren Kindern zuzuhören. Wir schlagen ihnen vor, Räume zu schaffen, in denen die Kinder ihre Gefühle ausleben und ausdrücken können. Zu akzeptieren, dass es normal ist, wenn Kinder Wut oder Kummer zeigen und weinen. Für die psychische Gesundheit der Kinder sollten ihre Grundbedürfnisse befriedigt sein, und es sollte Freizeitaktivitäten wie Malen oder Spielen geben. Und natürlich brauchen die Menschen die Unterstützung der Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe.
taz: Was haben Sie von den Kindern gelernt?
Rasha Chedid: Kinder sind anpassungsfähig und hoffnungsvoll, oft optimistischer als Erwachsene. Sie inspirieren uns mit ihrer klaren Vision für die Zukunft. Sie sagen, dass sich die Dinge ändern werden. Es ist wirklich schön, diese Einstellung zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen