Ismail Kadare „Der Anruf“: Das Verhältnis zwischen Diktator und Dichter
Hoxha und Stalin Rede und Antwort stehen: Was passiert, wenn der Diktator anruft? Davon erzählt der verstorbene Ismail Kadare in seinem letzten Roman.
![Ein historisches Telefon in einer Ausstellung. Ein historisches Telefon in einer Ausstellung.](https://taz.de/picture/7513349/14/37599788-1.jpeg)
Inhaltsverzeichnis
Nur rund drei Minuten soll die Unterredung der beiden gedauert haben, drei Minuten, die „monatelang das Tagesgespräch von ganz Moskau“ waren, wie der albanische Schriftsteller Ismail Kadare in seinem Buch „Der Anruf“ schreibt. Kadare versucht sich dem, was bei dem Telefonat gesagt wurde, anzunähern, indem er zwölf verschiedene Versionen (und eine 13. als Epilog) nebeneinanderstellt.
Sie unterscheiden sich mal kaum, mal deutlich voneinander. Er zitiert dabei etwa aus dem Archiv des KGB, aus den Memoiren der Autorin Nadeschda Mandelstam (der Frau Ossip Mandelstams) und den Aufzeichnungen der großen Lyrikerin Anna Achmatowa, einer engen Freundin Ossip Mandelstams und Pasternaks.
Ossip Mandelstams „Stalin-Epigramm“
Der Hintergrund: Der russische Dichter Ossip Mandelstam verfasst 1933 sein „Stalin-Epigramm“, ein Spottgedicht über „jenen Bergmenschen im Kreml“, das zunächst nur einige Freunde von ihm kannten. Darin heißt es: „Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl – / In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel. / Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren, / Diesem Breitbrust-Osseten zur Ehren.“
Im Mai 1934 wird Mandelstam verhaftet, gefoltert und nach Woronesch im Süden Russlands verbannt; nach einer weiteren Verhaftung stirbt er 1938 in einem Lager bei Wladiwostok. Pasternak hätte nun bei diesem Telefongespräch ein gutes Wort für ihn einlegen können, doch er ist offenbar überfordert, gibt sich unterwürfig und antwortet kaum mehr, als dass Mandelstam und er unterschiedliche Schriftsteller seien. Woraufhin Stalin ihn fast lächerlich macht und ihm entgegnet, er sei nicht mal imstande, für seinen Kollegen und Genossen einzutreten.
Ismail Kadare ist der wohl berühmteste Schriftsteller Albaniens. Als bedeutender Intellektueller hatte er ein wechselvolles Verhältnis zur Macht und zum grausamen albanischen Herrscher Enver Hoxha, der bis zu seinem Tod 1985 regierte. In „Der Anruf“ setzt er sich auch mit diesem Verhältnis auseinander.
Boris Pasternak und der Literaturnobelpreis
Der Roman beginnt mit einem autofiktionalen Teil: Kadare studiert Ende der 1950er Jahre in Moskau und ist mit dem „neuen“ Fall Pasternak konfrontiert. Denn jenem Boris Pasternak, der mehr als zwanzig Jahre zuvor mit Stalin telefonierte, soll 1958 der Literaturnobelpreis zugesprochen werden. Kurz zuvor hatte er den Roman „Doktor Schiwago“ veröffentlicht, dessen Protagonist von einem Sozialisten zu einem Dissidenten wird. Eine öffentliche Hetzkampagne gegen den Schriftsteller setzt ein, er lehnt den Preis schließlich ab.
Kadare wiederum hat genau darüber bereits in seinem Roman „Die Dämmerung der Steppengötter“ (1978) geschrieben, im ersten Teil von „Der Anruf“ greift er die Genese des Werks nun wieder auf. Und schreibt, er sei in jenen Jahren auch vom albanischen Diktator Hoxha persönlich angerufen worden, dieser habe ihm zur Veröffentlichung eines Gedichts gratuliert. Und er habe nicht viel mehr als mehrmals „Danke“ gesagt. Kadare hat sich also selbst in einer ähnlichen Situation befunden wie Pasternak, als Stalin anrief. Es ist ein geschickt verwebter Roman, mit viel Intertextualität, vielen Bezügen.
Es geht dabei grundsätzlich um das Verhältnis eines Diktators zum Dichter (hier wohl eher nur Maskulinum) in verschiedensten Epochen. Kadare schreibt in einer Passage: „Der Dichter und der Tyrann gehörten einfach nicht zusammen. Aber es gab auch Widerspruch.“
Der Tyrann und der Dichter
Ob man wolle oder nicht, hier habe man es mit zwei Ausformungen desselben Phänomens zu tun: Herrschaft. „Jeder war der Gefangene des andern, im gleichen Kreis der Hölle. Quälend und zerstörerisch beide, egal, ob drei Minuten, drei Jahrhunderte oder drei Jahrtausende.“ Dann wieder heißt es über den Mythos Tyrann versus Dichter, „das wahre Geschehen“ werde „durch aufgebauschte oder frei erfundene Geschichten überlagert, die leicht eingängig waren, aber auch schnell wieder vergessen wurden.“
Damit spielt er schon auf das andere Thema seines Buchs an: wie Wahrheit produziert und konstruiert wird. Die zwölf Versionen des Telefonats mit Stalin ähneln einander, aber jede erzählt eine etwas andere Geschichte, beispielsweise fällt die Schilderung Sinaida Pasternaks, der Ehefrau des Dichters, deutlich milder (und verfälschender?) aus als andere. Der Aspekt der Wahrheitsfindung ist in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien nicht unwesentlich bei der Rezeption.
Letztes Buch vor seinem Tod 2024
Der Roman erschien im Original 2018, es ist Kadares letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch, im vergangenen Jahr ist er im Alter von 88 Jahren gestorben. Kadare selbst hat das Albanien unter Diktator Hoxha zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bewertet, ein Dissident war er sicher nicht, auch wenn er Mitte der 1970er Jahre zeitweise Publikationsverbot erhielt.
Reflektiert er über sein Verhältnis zur kommunistischen Diktatur? Ganz sicher. Formuliert er Zweifel? Das kann man nicht abschließend beantworten. Ins Nachdenken über das Verhältnis der „Großschriftsteller“ (wie man sie damals noch nannte) zu diktatorischen Regimen kommt man aber ganz sicher. Denn es geht um weit mehr als nur drei Minuten Telefongespräch.
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