: Wären Geburten im Matriarchat schmerzfrei, Frau Mangler?
Je mehr Wert ein Land auf Frauengesundheit legt, desto zivilisierter und demokratischer ist es, sagt die Chefärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe Mandy Mangler. In Deutschland sieht sie große Lücken

Interview Anne Fromm
taz: Ihr Buch beginnt mit dem Satz: „Manchmal ist es eine Herausforderung, einen weiblichen Körper zu haben.“ Wo liegt die Herausforderung?
Mandy Mangler: Wir Menschen sind alle Säugetiere, Männer und Frauen. Mit diesem Körper müssen wir umgehen. Wir Frauen haben die zusätzlichen Themen des Zyklus: Menstruation, Verhütung, Schwangerschaft, Schwangerschaftsverluste, Geburt, Menopause.
taz: Das klingt anstrengend. Ist es schwer, eine Frau zu sein?
Mangler: So würde ich das nicht sagen. Ich finde alles, was mit Weiblichkeit zusammenhängt, stark. Wir als Gesellschaft erkennen viel zu wenig an, was Frauenkörper leisten: Allein die 400 Zyklen, die eine Frau durchschnittlich in ihrem Leben durchläuft – was für eine Kraft. Aber es kann für eine Frau herausfordernd sein, wenn sie sich nicht auskennt und ihrem Körper ausgeliefert ist. Je mehr wir darüber wissen, desto mehr können wir unseren Körper als etwas Starkes, Gutes begreifen.
taz: Kennen sich Frauen heute nicht besser aus als je zuvor?
Mangler: Das Wissen ist heute viel zugänglicher als früher. Trotzdem stelle ich immer wieder fest, wie viel Wissen dadurch verloren gegangen ist, dass wir nicht mehr im großen Familienverband leben.
taz: Zum Beispiel?
Mangler: Nehmen wir die Geburt und alles drumherum. Eine Freundin von mir hat ein Kind bekommen und war völlig überrascht vom Wochenfluss. Darauf wäre sie früher vielleicht von Schwestern, Tanten, Cousinen vorbereitet worden.
taz: Vor welchen Herausforderung stehen Frauen zwischen 30 und 49?
Mangler: Frauen in Deutschland bekommen im Schnitt mit 30 Jahren ihr erstes Kind. In dieser Lebensphase setzt man sich also mit der Frage auseinander, ob man Kinder möchte oder nicht. Wenn man keine möchte, beschäftigt man sich mit Verhütung. Wenn man welche möchte, dann eben mit den Themen schwanger werden, schwanger bleiben, Geburt, stillen.
taz: Was bedeutet reproduktive Selbstbestimmung in diesem Alter?
Mangler: Der wesentliche Punkt ist, für sich selbst zu verstehen, wie man leben möchte, etwa in Bezug auf Kinder. Als Geburtshelferin finde ich Kinder natürlich toll – und nicht nur ich. Kinderhaben gilt als Norm in unserer Gesellschaft. Dabei unterschätzen viele, welchen enorm großen Einfluss diese Entscheidung auf das Leben, besonders von Frauen hat. Da spreche ich nicht nur von unbezahlter Care-Arbeit und Karriereeinbußen. Die Gesundheit von Frauen leidet langfristig, wenn sie Kinder haben. Studien zeigen, dass Frauen kürzer leben, wenn sie sich in Beziehungen um einen männlichen Partner kümmern. Andere Studien zeigen, dass Männer länger leben, wenn sie von einer Frau umsorgt werden. Gleichzeitig will ich nicht sagen, dass man sich gegen Familie entscheiden sollte. Das muss jede Person für sich selbst wissen.
taz: Sie kritisieren immer wieder, dass die Medizin zu männlich geprägt ist. Wo spüren Frauen das?
Mangler: Es gibt noch viele blinde Flecken in der Gynäkologie. Ich bin mir sicher, die würde es nicht geben, wenn wir im Matriarchat leben würden. Dann wüssten wir definitiv mehr über die Geburt. Das Thema hätte mehr Wert, es gäbe mehr Forschung, mehr Geld. Wir hätten hoffentlich weniger Gewalt in der Geburtshilfe. Und wir hätten uns mehr mit der weiblichen Sexualität beschäftigt. Wir hätten untersucht, welche Auswirkungen Operationsmethoden wie etwa die Gebärmutterentfernung auf die weibliche Sexualität haben. Bei der Prostataentfernung wissen wir das. Wir haben viel Geld ausgegeben für die Erforschung und Verbesserung der männlichen Erektion, aber nicht annähernd so viel für die weibliche Sexualität. Noch immer hält sich der Mythos, das Wichtigste an der sexuellen Erregung der Frau sei die Vagina und dass die Penetrationsfähigkeit erhalten bleibt. Aber das wird Frauen und ihrer Sexualität nicht gerecht. Denn die Klitoris ist das Orgasmusorgan der Frau.
taz: Wären Geburten schmerzfrei im Matriarchat?
Mangler: Schmerzfrei, ich weiß nicht, ob das geht. Aber Geburten wären intensiver untersucht. Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland 692.989 Geburten. Daraus ergibt sich eine unfassbar große Datenmenge, die nicht ausreichend analysiert ist. Denn eine Hebamme oder Ärztin nachts um drei weiß nicht, wie diese Geburt weitergeht. Aus der Überforderung, dem Stress, der Müdigkeit kann dann zum Beispiel verbale Gewalt geschehen. Da können Sätze fallen wie: „Sie wollen ja nicht, dass ihr Kind stirbt.“
taz: Datensammeln gegen Gewalt in der Geburtshilfe – sind Geburten nicht viel zu individuell, um sie berechenbar zu machen?
Mangler: Für andere Situationen, Herzinfarkte oder Infekte, machen wir das doch auch: Wir sammeln Daten und werten sie aus, um für kommende Fälle gewappnet zu sein. Bei Geburten könnten wir den CTG-Verlauf, die Größe des Kindes, die Biometrie der Mutter, die Untersuchungsergebnisse unter und nach der Geburt sammeln. Wir können sie so auswerten, dass die Ärztin und Hebamme nachts weiß: Das wird zu 95 Prozent eine vaginale Geburt mit einem guten Ergebnis. Dann kann sie ganz anders agieren, als wenn sie weiß, das wird nur zu 25 Prozent eine vaginale Geburt, vielleicht ein Kaiserschnitt.
taz: Sie sind seit 25 Jahren in der Medizin. Wie hat sich die Geburtshilfe verändert?
Mangler: Körperliche Gewalt ist in der Geburtshilfe glücklicherweise extrem selten geworden. Es gibt immer mehr hebammengeleitete Kreißsäle wie hier bei uns in der Klinik, in denen die liebevolle Begleitung, Stärkung und Motivation der Gebärenden im Vordergrund steht. Gynäkologie und Geburtshilfe sind auf einem guten Weg – aber das reicht nicht, wie man an der letzten Krankenhausreform gesehen hat. Knapp eine Million Menschen sind in Deutschland jährlich mit dem Thema Schwangerschaft und Geburt beschäftigt. Das sind neben den Gebärenden auch mehr als 100.000 Frauen mit Fehlgeburten und etwa 100.000 Frauen, die Abbrüche haben. Dazu kommen die jeweiligen Partner oder Partnerinnen. Und trotzdem hat die Krankenhausreform das Thema kaum betrachtet. In der ganzen Expertenkommission saß keine einzige Geburtshelferin.
taz: Warum nicht?
Mangler: Weil der Gesundheitsminister keinen Fokus darauf gelegt hat, dafür aber auf das Thema Hirninfarkt. Das ist ein wichtiges Thema, zweifelsohne. Es gibt 200.000 Hirninfarkte pro Jahr in Deutschland – versus eine knappe Million Menschen, die direkt vom Thema Schwangerschaft und Geburt betroffen sind. Das zeigt, welchen Wert wir dem Kinderkriegen beimessen.
taz: Ein Thema, das hingegen gesellschaftlich breit debattiert wird, sind Schwangerschaftsabbrüche. Unter der Ampel-Regierung wollte eine fraktionsübergreifende Initiative aus Abgeordneten sie aus dem Strafgesetzbuch streichen, hat das aber nicht geschafft. Die CDU will den Paragrafen 218 behalten. Was macht das mit Ihnen?
Mangler: Es fällt mir wirklich nicht leicht, da die Fassung zu bewahren.
taz: Warum?
Mangler: Ich finde es komplett daneben, Frauen so zu bevormunden. 80 Prozent der Deutschen sind dafür, den Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Aber einige Politiker hinken extrem hinterher und versuchen, ihre persönliche Meinung der Mehrheit aufzuoktroyieren.
taz: Es bremsen ja nicht nur konservative PolitikerInnen. Auch in der linksliberalen Ampel-Regierung hatte das Thema keine Priorität.
Mangler: Dass die Koalition ihr Versprechen nicht eingelöst hat, ist traurig. Im März 2024 hat die zuständige Regierungskommission empfohlen, das Gesetz zu reformieren. Dann kamen die Ergebnisse der Elsa-Studie, der stärksten Studie, die wir in Deutschland zu dem Thema haben. Sie hat gezeigt, wie Frauen diskriminiert und stigmatisiert werden, wenn sie einen Abbruch wollen. Es gibt also genug Evidenz, und es gab genug Zeit für eine Reform. Von der CDU erwarte ich erst recht keine Reform. Damit haben wir nun also noch mal ein Statement gesetzt, dass wir ein konservatives Land sind, in dem Geschlechtergerechtigkeit und weibliche Selbstbestimmung nicht wichtig sind.
Mandy Mangler
ist Ärztliche Direktorin und Chefärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe an zwei Vivantes-Kliniken in Berlin. Im Oktober 2024 hat sie „Das große Gynbuch“ veröffentlicht (Insel Verlag). Ihr Podcast „Gyncast“ erscheint in Kooperation mit dem Tagesspiegel.
taz: Was wäre aus Ihrer Sicht die perfekte Regelung zum Schwangerschaftsabbruch?
Mangler: Frauen sollten frei darüber bestimmen dürfen, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen wollen – und zwar über den gesamten Zeitraum der Schwangerschaft hinweg. Aus Ländern, in denen das bereits lange so geregelt ist, wissen wir, dass keine Frau in der 30. Schwangerschaftswoche leichtfertig entscheidet, abzubrechen. Frauen entscheiden das am Anfang der Schwangerschaft. Diese Entscheidung sollte für alle, die an ihr beteiligt sind – die Frau, die Ärztin, das medizinische Personal – straffrei sein.
taz: Warum ist das Thema Schwangerschaftsabbruch so extrem aufgeladen?
Mangler: Am Paragrafen 218 entscheiden sich die großen demokratischen Fragen. Vordergründig geht es darum, wie viel Selbstbestimmung wir Frauen zugestehen. Aber dahinter steht ja im Wesentlichen, wie wir Frauen insgesamt behandeln. Und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin: Je mehr Frauengesundheit es gibt, desto zivilisierter und demokratischer ist ein Land.
taz: Es ist ja nicht so, als wäre in Sachen Selbstbestimmung nichts passiert. Der Paragraf 219a, das Informationsverbot für Abtreibungen, wurde abgeschafft, die Gehsteigbelästigung von ÄrztInnen, die Abbrüche durchführen, verboten. Es gibt nun den gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten. Malen Sie das Bild nicht ein bisschen düster?
Mangler: Bestimmte Dinge gehen voran. Aber gerade die Streichung von Paragraf 219a ist für mich eine zwiespältige Erinnerung. Das war der 24. Juni 2022, ein Tag zum Feiern in Deutschland. Und am gleichen Tag wurde in den USA die Rechtsprechung zur liberalen Abtreibungspolitik gekippt. Einige Bundesstaaten haben seitdem radikale Abtreibungsverbote eingeführt.
taz: Hatten Sie selbst mal einen Abbruch?
Mangler: Nein, aber eine ungeplante Schwangerschaft. Als Gynäkologin habe ich einen extrem unemotionalen Blick auf Schwangerschaften. Ich sehe jeden Tag Menschen, die Fehlgeburten haben und sehr traurig sind oder die lebensbedrohliche Situationen erleben auf Grund ihrer Schwangerschaft. Und ich sehe Menschen, die Schwangerschaften abbrechen. So ist das Leben.
taz: Sie haben fünf Kinder, sind Ärztliche Direktorin einer Klinik, engagieren sich politisch, haben einen Podcast und gerade ein Buch geschrieben. Wie geht das zusammen?
Mangler: Mit einer geschlechtergerechten Partnerschaft und guter Organisation. Mein Alltag ist durchgetaktet. Sonntagabend erstelle ich den Plan für die kommende Woche, damit jeder zu Hause weiß, was wann zu tun ist. Mein Mann und ich teilen uns die Care-Arbeit so gerecht wie möglich auf. Ich bin kein Typ für morgens: Kinder anziehen, in die Schule und die Kita fahren, das ist nicht meins. Das übernimmt mein Mann, ich bin um 6 Uhr in der Klinik. Dafür bin ich nachmittags da, wenn die Kinder kommen. Ich versuche, zwischen 16 und 17 Uhr nach Hause zu kommen.
taz: Das klappt?
Mangler: Nicht immer und nicht von Anfang an. Als ich Chefärztin wurde, ging die reguläre Chefarztrunde von 17 bis 20 Uhr. Mir war klar, dass ich das nicht dauerhaft machen kann. Nach der Probezeit habe ich gesagt: Lasst uns den Zeitpunkt auf 14.30 Uhr verschieben. Das stieß natürlich auf Kritik, aber wir haben es durchgezogen.
taz: Nervt es Sie, in Interviews immer wieder gefragt zu werden, wie Sie Familie und Karriere unter einen Hut bekommen? Männliche Chefärzte werden das nicht gefragt.
Mangler: Überhaupt nicht. Das Thema bewegt mich ja auch. Ich war neulich zu einem Vortrag beim Deutschen Ärztinnenbund, und das Hauptthema, das die jungen Ärztinnen beschäftigt, ist: Wie kriegst du das hin, Kinder und Karriere? Kinder haben und arbeiten, das ist wie permanentes Zirkeltraining und eigentlich kaum zu schaffen. Aber alle suchen danach, wie es doch geht.
taz: Muss man Feministin sein, um eine gute Gynäkologin zu sein?
Mangler: Das ist eine schwierige Frage. Wir sind 77 Prozent weibliche Gynäkologinnen in Deutschland, die Spitzenpositionen in den Kliniken und den Unis sind aber zu über 80 Prozent mit Männern besetzt. Mein Eindruck ist, unter den männlichen Kollegen gibt es nicht viele Feministen. Trotzdem sehe ich, dass die Mehrheit meiner Kolleginnen klug und progressiv ist. Ich glaube, dass man überall Feministin sein kann, egal welches Geschlecht man hat. Es ist einfach eine gerechtere Möglichkeit, die Gesellschaft zu betrachten.
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