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Die Angst um Rojava

Unter Berliner Kurden ist der Krieg der Türkei gegen die autonome Kurden-Region in Nordostsyrien gerade das große Thema. Und die Angst vor der deutschen Politik

Bzah Dher vor einer Landkarte der kurdischen Region in Syrien Fotos: Susanne Memarnia

Von Susanne Memarnia

Unter Berliner Kurden geht die Angst um. Seit dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien werden in der deutschen Politik immer mehr Stimmen laut, die fordern, syrische Flüchtlinge sollten zurückgehen in ihre Heimat. Gleichzeitig intensiviert die türkische Regierung ihren Krieg gegen die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), allgemein als Rojava bekant.

„Was in Rojava passiert, beeinflusst meine Psyche, das nimmt mich sehr mit“, sagt Mert Özkaraman. Der studierte IT-Berater aus Rudow meint die nicht endenden Angriffe der Türkei und der mit ihr verbündeten Dschihadistenmiliz „Syrische Nationalarmee“ (SNA) auf Rojava, aktuell vor allem auf den Tişrîn-Staudamm nahe Kobane. Er sagt: „Ich verstehe jetzt, was Palästinenser gesagt haben zu Gaza: Hey, seht her, da sterben Menschen aus meiner Community!“

Die taz trifft den 30-Jährigen im Café der Freien Kurdischen Gemeinde Nav-Berlin in Reinickendorf. Am frühen Abend ist noch wenig los, vereinzelt sitzen Männer mit Schnauzbart an Resopaltischen, trinken Tee, lesen Zeitung. Einer von ihnen ist Hüseyin Yılmaz, Co-Vorsitzender des Vereins. Der 68-Jährige kam erst 2019 nach Berlin, spricht daher nicht so gut Deutsch; Özkaraman, der in Berlin geboren ist, soll für die Reporterin übersetzen.

Özkaraman und Yılmaz gehören zwei sehr unterschiedlichen Genera­tionen an. Yılmaz ist ein Kurde, wie man ihn sich klischeeartig vorstellt, vor allem wegen seines buschigen Schnurrbarts. Er war Bürgermeister der ost­anatolischen Stadt Ağrı und aktiv in den diversen kurdischen Parteien, die in der Türkei immer wieder verboten werden, bevor er aus politischen Gründen fliehen musste. Bis heute ist er ein glühender Verehrer von Abdullah Öcalan: Erst der PKK-Gründer habe „aus dem Nichts das kurdische Bewusstsein geschaffen“, sagt er. Über die Geschichte der kurdischen Verfolgung seit dem Ende des osmanischen Reiches kann Yılmaz aus dem Stand einen langen Vortrag halten.

Der Jüngere ist in Berlin aufgewachsen, ohne zu wissen, dass er Kurde ist. Seine Eltern, erzählt Özkaraman, hatten Angst vor Problemen, und haben ihre Kinder türkisch erzogen. Da sein Name türkisch ist, fiel er auch in der Schule unter türkischstämmigen Mitschülern nicht weiter auf. „Meine kurdische Identität habe ich erst in der 5. Klasse entdeckt, als meine Tante mir erzählte, dass wir Kurden sind.“ Sie habe ihm über die kurdische Geschichte erzählt und er habe angefangen, sich damit zu befassen.

Richtig bekennen mochte er sich aber lange nicht zu seinem Kurdisch-sein, erzählt Özkaraman. Eine Freundin, die in der 7. Klasse ein Öcalan-Poster im Zimmer hatte, sei sofort in der Klasse „gedisst“ worden. „Es gab damals viel Geläster von türkischen Berlinern über Kurden“, und so habe er sich geschämt zu sagen, dass er Kurde ist. Bis heute kann er kein Kurdisch, für einen Sprachkurs fehlt ihm die Zeit.

Von sich selbst sagt der 30-Jährige, der in seiner Freizeit als Taekwando- und Kickbox-Trainer arbeitet: „Ich bin Berliner, Europäer, ich fühle mich irgendwo als Deutscher aber auch als Kurde.“ Sein Kurdischsein lebt er vor allem bei seinen Besuchen im ­Kurdischen Gemeinde-Zentrum in der Residenzstraße aus, wo es neben dem Café auch Räume für Feste und ­Veranstaltungen sowie einen ­Jugendtreff gibt. Hier tauscht er sich aus mit anderen Kurden, auch mit jenen, die gerade erst nach Berlin geflohen sind oder vor zwei, drei Jahren. „Ich versuche, vor allem jungen Menschen zu helfen, zum Beispiel wie sie eine Ausbildung oder ein Studium anfangen können.“

Wie viele Kurden es in Berlin gibt, weiß niemand so genau, weil Kurden nicht als solche registriert werden, ­sondern als Türken, Syrer, Iraker oder Iraner – eben als Staatsbürger der vier Länder, in denen sie vor allem be­heimatet sind. Verschiedentlich liest man, es sollen etwa 100.000 sein, auch Yılmaz nennt diese Zahl und sagt, der Verein Nav-Berlin habe sie recherchiert. Was nicht so leicht sein dürfte, wenn Kurden sich, wie Özkaramans Eltern, teilweise gar nicht zu erkennen geben.

Fest steht: Die meisten Kurden hierzulande kommen aus der Türkei. Die türkische Regierung bekämpft „ihre“ Kurden seit rund 50 Jahren; unter dem Deckmantel des Kampfs gegen den „Terror“ der PKK geht sie gegen jegliche Bestrebungen kurdischer Selbstbestimmung vor. Dass die Repression seit einiger Zeit wieder forciert wird, sieht man auch an den Asylzahlen: 2023 haben 61.000 Menschen aus der Türkei, die zweitgrößte Gruppe nach Syrern, in Deutschland Asyl beantragt – die übergroße Mehrheit davon waren laut Pro Asyl Kurden. 2024 war die Türkei das drittwichtigste Herkunftsland mit 31.000 Asylanträgen. Die meisten Asylanträge sind allerdings erfolglos, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und viele Gerichte keine staatliche Verfolgung sehen.

Syrische Kurden sind die zweitgrößte Gruppe, sie kamen vor allem mit dem Bürgerkrieg ab 2015. Im Jahr 2023 stellten sie über 22.000 Asylanträge.

Egal, woher sie kommen, die Lage in Rojava ist gerade das Thema. Yılmaz, der türkisch-kurdische Politiker, findet große Worte: „Wir sehen uns einem Völkermord durch den türkischen Staat gegenüber – und die ganze Welt schaut tatenlos zu.“ Tausende Menschen in der Region um den kaputt geschossenen Tişrîn-Staudamm seien seit Wochen ohne Strom und Wasser. Aufgrund der permanenten Bombardierungen durch die Türkei lebten Zehntausende in Zelten, Weizenlager seien zerstört, ebenso Ölfelder. „Europa, in dem Menschenrechte so viel gelten, müsste eigentlich aufschreien“, findet er.

Angesichts dieser Lage macht ihn die Debatte um die Rückkehr der Flüchtlinge wütend: Wie könnten Menschen in eine Region zurückgeschickt werden, in der es keine Sicherheit gebe, die teils in Schutt und Asche liege. „Dort kann man nicht leben!“ Ohnehin sei es für die Kurden hier schmerzhaft, diesem Krieg zusehen zu müssen. „Man kann so wenig machen, außer unsere Stimmen zu erheben, zu mahnen, dass die Welt hinschauen muss“, sagt Yılmaz.

„Europa, in dem Menschenrechte so viel gelten, müsste eigentlich aufschreien“

Hüseyin Yılmaz

Özkaraman erhebt seine Stimme und zwar gegenüber türkischen Freunden, was ihm viel Ärger einbringt. „Ich appelliere an meine Community, dass sie die Gewalt gegenüber den Kurden wahrnehmen und sich dagegen positionieren“ – aber er bekomme nur vereinzelten „Support“ und „viel Contra“: Viele sagten und schrieben auf Social Media, die Türkei kämpfe nicht gegen die Kurden, sondern gegen den IS und die PKK. „Das ist die Propaganda Erdoğans, die sie nachbeten.“ Özkaraman hat dagegen ein sehr positives Bild von Rojava, auch wenn er noch nie dort war: „Da wird gerade eine neue Gesellschaft aufgebaut“, die Menschen führten ein sehr aktives politisches Leben auf kommunaler Ebene.

Über die emanzipativen Aspekte von Rojava kann Bzad Dher noch viel mehr erzählen. Der 30-Jährige, der einen vollen schwarzer Vollbart trägt, ist Mitglied der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und arbeitet in der Vertretung von DAANES, eine Art Konsulat, die in einem Kreuzberger Souterrainladen residiert. Er sagt: „Dass Rojava bestehen bleibt, ist nicht nur für die Kurden wichtig. Es ist eine Hoffnung für viele Menschen als Gegenprojekt zu Erdoğan, den syrischen Islamisten, zu Iran.“

Dher kommt aus Hasaka in Rojava und floh 2015. Als der IS seine Stadt angriff, sei es für ihn als politischen Aktivisten zu gefährlich geworden, erzählt er. Heute studiert er Politik und Philosophie an der FU und ist bei DAANES zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. In dieser Funktion versucht er Optimismus zu versprühen, dass Rojava den Krieg mit der Türkei und den Konflikt mit der neuen HTS-Regierung in Damaskus überlebt, sagt aber auch: „Es ist zu früh, um zu sagen, wie das ausgeht.“

Und er warnt vor der westlichen Hoffnung, mit der neuen Regierung sei gut Staat zu machen: „Die Ideologie der HTS ist wie die des IS.“ Er hoffe sehr, dass der Westen Druck mache, damit sich die HTS an Menschen- und Frauenrechte halte.

Hüseyin Yılmaz im Café der kurdischen Gemeinde Nav-Berlin

Letztlich, sagt er, habe auch der Westen ein Interesse daran, dass Rojava bleibt: allein schon wegen des IS-Gefängnisses nahe Hasaka, wo die multiethnische Armee, die Syrian Democratic Forces (SDF), 12.000 IS-Kämpfer und deren Familien interniert hält. „Rojava ist ein großer Schutz für Europa vor dem IS.“ Dher erinnert daran, dass es kurdische Kämpfer und Kämpferinnen waren, die unter großen Opfern seinerzeit den IS besiegt haben.

Zum zehnjährigen Jubiläum der Befreiung der Stadt Kobane vom IS gab es vorigen Samstag eine Demonstration mit einigen hundert Teilnehmern, die vom Alexanderplatz zum Bundestag zog. Neben einem Meer aus gelb-rot-grünen Rojava-Flaggen zeigten viele Transparente, wie wichtig Rojava für Frauen ist. „Defending Kobane means Defending Women’s Revolution“, war etwa zu lesen, ein Frauen-Block trug das Motto der iranischen Frauen-Revolution „Jin-Jian-Asadi“ als Buchstabenkette. „Die Errungenschaften dieser Revolution sind heute erneut bedroht“, so eine Rednerin.

Mit dabei war auch eine Gruppe, die die taz zufällig ein paar Tage zuvor im Café des Nav-Berlin kennenlernt. An einem Tisch sitzen zehn junge Frauen, die angesichts ihrer großteils blonden ­Haaren auffallen. Sie gehörten zur Gruppe „Gemeinsam kämpfen“, stellen sie sich vor, einer internationalistisch-feministischen Kampagne, die „die Ideen der Revolution der selbstverwalteten Region Nord- und Ost­syriens in Deutschland bekannter“ machen möchte.

Ins Kurden-Café in Reinickendorf gingen sie gerne, sagt eine von ihnen, Luise Heim, hier träfen sie jede Menge unterschiedliche Menschen, mit denen man sich austauschen könne. Was sie an Rojava so begeistere? Die junge Frau sprudelt los und erzählt von den drei Säulen der kurdischen Freiheitsbewegung: Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie. Sie findet: „Wir als Internationale können viel lernen von der kurdischen Freiheitsbewegung.“

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