: Jeder Schüler soll Gedenkstätten besuchen
Hamburgs Schulsenatorin kündigt verpflichtende Besuche in KZ-Gedenkstätten an. Die Bildungspläne sehen das schon länger vor. Ausnahmen sollen möglich sein
Von Kaija Kutter
Hamburgs Schulsenatorin Ksenja Bekeris (SPD) möchte erreichen, dass „alle Hamburger Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte kennenlernen“. Das kündigte sie am Montag bei der 27. Verleihung des Bertini-Preises an. „Das ist so ein wichtiger Schritt“, sagte die SPD-Politikerin. Denn eine aktuelle Studie zeigt, dass etwa 40 Prozent der 18- bis 29-Jährigen über die Verbrechen der NS-Zeit nicht gut Bescheid wissen. Das Hamburger Abendblatt schrieb daraufhin, für alle Hamburger Schüler werde der Besuch einer KZ-Gedenkstätte „zur Pflicht“.
Das verwundert ein wenig. Denn erst im April waren entsprechende Vorschläge auf Widerspruch der Gedenkstätten gestoßen. Der Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, sagte etwa laut der Welt: „Freiwilligkeit ist eine Grundvoraussetzung demokratischer und historisch-politischer Bildung.“ Und auch der Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Oliver von Wrochem, sagte nun der taz, er sei da skeptisch. „Unsere Erfahrung zeigt, dass Zwang nicht die beste Lösung ist, wenn man schulisches Lernen auch an außerschulischen Lernorten voranbringen möchte.“
Schulbehördensprecher Peter Albrecht sagt, dass es hier nicht um eine Muss-, sondern um eine Soll-Bestimmung gehe. Auch sei der Plan nicht neu. So steht bereits seit 2023 in Hamburgs Bildungsplänen für die Jahrgänge fünf bis elf, wichtig sei „das Lernen an außerschulischen Lernorten“. Und: „Mindestens einmal in ihrer Schulzeit sollten Schülerinnen und Schüler eine Gedenkstätte besuchen, zum Beispiel die KZ-Gedenkstätte Neuengamme.“ Senatorin Bekeris habe mit ihrer Rede ein politisches Signal setzen und allen klar machen wollen, dass sie eine Umsetzung „auf jeden Fall“ möchte, sagt Albrecht. Es gebe nun dazu Gespräche mit der Kulturbehörde und Gedenkstätten.
Laut von Wrochem gibt es grundsätzliche und praktische Bedenken. „Ein Zwangsbesuch ist aus didaktischer Sicht nicht hilfreich“, sagt er. Freiwilligkeit wäre besser, damit jemand von dem Besuch auch etwas mitnimmt. Wichtig wäre, dass Lehrkräfte auch dahinterstehen und ihre Klassen gut auf den Besuch vorbereiten. Auch müssten die Führungen individuell auf Gruppen eingehen.
Deshalb müsse der Gedenkstättenbesuch dauerhaft in die Lehreraus- und -fortbildung integriert werden. Und da der Besuch von Schulklassen finanziell gefördert wird, kämen mit mehr Schülern auch „mehr Kosten auf uns zu“. Auch die Infrastruktur und die personelle Unterstützung müssten angepasst werden. Insgesamt entstünden Kosten in sechsstelliger Höhe.
2024 kamen nach Neuengamme rund 110.000 Besucher, darunter 51.000 Jugendliche. In allen Gedenkstätten Hamburgs zusammen waren etwa 155.000 Besucher, davon rund 62.000 in einer Gruppe. Zum Vergleich: Hamburg hatte im letzten Schuljahr in den Stufen fünf bis elf rund 117.000 Schüler.
„Es gibt heute schon eine große Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die Gedenkstätten besuchen“, sagt Peter Albrecht. Aber auch dem Senat sei klar, dass für die Umsetzung der Bildungsempfehlung Ressourcen nötig sind. „Genau berechnet ist das noch nicht, aber wir gehen von einer sechsstelligen Summe aus“, sagt auch er.
Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Gefragt, welche Option denn Schüler haben, die so einen KZ-Gedenkstätten-Besuch als zu belastend empfinden, sagt Albrecht: „Befreiungen im Einzelfall sind immer möglich.“ Die Rechtsgrundlage sei Paragraf 28 des Schulgesetzes. Dort heißt es: „Auf Antrag kann die Schule Schülerinnen und Schüler aus wichtigem Grund (…) von der Teilnahme an einzelnen Schulveranstaltungen befreien.“ Diese Norm, so ist Albrecht sicher, ermögliche den Schulen, „sachgerecht und individuell auf den jeweiligen Fall einzugehen“.
Oliver von Wrochem sagt indes: „Unsere Erfahrung ist, dass der Besuch in der Gedenkstätte als außerschulischem Lernort, weg vom Schulbuch, sehr positive Effekte hat.“ Auch vermeintlich schüchterne und wenig interessierte Schüler würden dort „sehr viel fragen und Interesse zeigen“.
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