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Auf neuen Beinen stehen

Der Prothesenhersteller Ottobock schult ukrainische Orthopädietechniker. Der Krieg bleibe außen vor, heißt es. Tatsächlich lässt er sich aber nicht aussperren. Ein Besuch vor Ort

Ukrainische Orthopädietechniker bei einer Schulung in Duderstadt Foto: Ottobock HealthCare

Aus Duderstadt Friederike Gräff

Ist eine Prothese politisch? Oder ist sie doch nur ein Schaft mit Gelenken, der es Menschen ermöglicht, wieder eine Treppe hinunterzugehen? Der Krieg bleibe draußen, sagen die Mitarbeiter von Ottobock in Duderstadt sehr entschieden. Im Keller der Firmenzentrale sitzen gerade elf ukrainische Orthopädietechniker an Laptops und schreiben ihren letzten Test, um künftig die Hüft-Ex-Prothese von Ottobock anpassen zu dürfen. Aber der Krieg lässt sich nicht aussperren.

Die Firma Ottobock ist ein altes Familienunternehmen und heute Weltmarktführer in Sachen Prothesen. In Duderstadt liegt die Zentrale mit wehenden Fahnen vor dem Tor und einem eigenen Ausbildungscampus. Es gibt Fertigungshallen, in denen High-Tech-Prothesen hergestellt werden, die so viel wie ein kleines Haus kosten, aber etwa auch die neue, verhältnismäßig einfache Armprothese „Skeo up daily assist“: In nur 19 Wochen hätten sie die entwickelt, sagt der Mitarbeiter stolz, der durch die Halle führt. Damit haben die Anwender eine Prothese, die sich schnell anpassen lässt und wasserfest ist: Das bedeutet, dass sie sich wieder selbst das Gesicht waschen oder die Zähne putzen können.

„Anwender“ sagen hier alle, weil die Menschen, die Prothesen brauchen, nicht krank sind. Die Anwender, die Ottobock bei der Entwicklung von „Skeo up daily assist“ im Blick hatte, sind Soldaten und Menschen in Krisengebieten. Krieg ist gut fürs Prothesengeschäft. Seit Kriegsbeginn ist die Anzahl der Anfragen aus der Ukraine um 30 Prozent gestiegen.

Und so ist es natürlich auch ein gutes Geschäft für Ottobock, ukrainische Orthopädietechniker so zu schulen, dass sie die hauseigenen Prothesen vor Ort anpassen können. Die Männer an den Tischen des Schulungsraums sehen müde aus. Zu Beginn der Schulungen haben oft die Luftalarm-Apps geklingelt, inzwischen werden sie rechtzeitig ausgeschaltet. Dass von den zwölf Angemeldeten zehn da sind, ist ungewöhnlich. Es gibt Kurse, bei denen 75 Prozent der Männer fehlen, weil sie an der Grenze zurückgeschickt werden: Orthopädietechniker sind zwar Mangelware in der Ukraine, Soldaten aber auch.

Auf den Tischen liegen ein paar der Interimsschafte, die sie aus Kunstharz gezogen haben. Wie durchsichtige dreidimensionale Unterhosen sehen die aus, die Techniker haben mit Edding markiert, wo noch nachgebessert werden muss. Ein Schaft, der nicht richtig sitzt, ist eine Qual für die Anwender. Ihr Modell heute, der Probeanwender, ist ein schmaler Mann mit blondiertem Haar und Beinprothese. Er sitzt wartend auf einem Stuhl. „I need your leg“, sagt einer der ukrainischen Techniker zu ihm. Der Probeanwender hatte vor Jahrzehnten einen Straßenbahnunfall und danach eine „Hüft-Ex“, so sagen die Orthopädietechniker von Ottobock. Hüft-Ex steht für Hüft­exartikulation, die Amputation eines ganzen Beines im Hüftgelenk. „Die Prothese ist mein Zuhause“, sagt der Probeanwender. Die Aufwandsentschädigung kann er gut gebrauchen für seinen kleinen Sohn.

„Bei uns gibt es Hüft-Ex kaum noch, seitdem die Früherkennung von Knochenkrebs so gut ist“, sagt Frederik Thiede, der Orthopädietechnikermeister, der den Kurs leitet. Ein ruhiger Mann, bei dem man jenes Arbeitsethos vermutet, von dem später die Rede sein wird: eine Präzision, von der die Anwender profitieren. Weil sie über Schmerz oder Nichtschmerz bei den Anwendern entscheidet.

Orthopädie­techniker fehlen

Auf Prothesen zu gehen muss man lernen und das ist hart. „Viele sind demotiviert nach der Verletzung“, sagt Anatoli Tirik, der als Area Manager auch für die Ukraine zuständig ist, und klingt ein bisschen wie ein Lehrer, der mehr erwartet. Tirik wird euphorisch, als er von Heinrich Popov erzählt, dem Paralympic-Weltmeister, der in die Ukraine gereist ist und frühere Soldaten bei den „talent days“ trainiert hat. Was für eine Kraft Popov ausgestrahlt habe, sagt Tirik voller Respekt.

Was nicht fehlt in der Ukrai­ne: Geld für Prothesen. Der Erstattungsanteil sei höher als etwa in Polen, sagt Tirik. Es fehle auch nicht an den neuesten Maschinen, um sie zu bearbeiten. Die liefert Ottobock. Es fehlen Orthopädietechniker, Frauen gibt es kaum, und eine geregelte Ausbildung. Bislang lernen die Neuen bei den Alten – und dabei, so erzählt einer der Kursteilnehmer –, übernähmen sie die alten Fehler gleich mit. Ihre Wartelisten sind lang.

Der Krieg verändert sich und damit die Verletzungen. Zu Beginn, sagt Tirik, habe es vor allem Bedarf an Armprothesen gegeben, weil die Soldaten in Schützengräben kämpften. Jetzt seien es mehr Beinverletzungen. Die würden abgebunden, damit die Verletzten nicht verbluteten. Und weil die Wege bis zu den Amputationschirurgen lang sei, sterbe das Gewebe ab. Daher gebe es viele sehr kurze Stümpfe. „Es sind keine Mediziner, die da abbinden“, sagt Tirik.

Tiriks Vater stammt aus der Ukraine, er selbst ist in Kasachstan aufgewachsen. Ottobock hat seit Kriegsausbruch seine Aktivitäten in Russland reduziert, aber nicht eingestellt. Man sei nur noch an vier statt wie bislang sieben Standorten aktiv, sagt eine Sprecherin des Unternehmens. Der Anteil des russischen und ukrainischen Marktes gemeinsam habe gerade mal einen kleinen einstelligen Anteil am Gesamtumsatz. Und zudem: In Russland gehe es ausschließlich um die Versorgung der Zivilbevölkerung. „Wir nehmen nicht an militärischen Ausschreibungen teil.“

Gerade ist im Manager-Magazin ein Text erschienen, der bei Ottobock für wenig Freude gesorgt haben wird, nachdem es zuletzt Schlagzeilen um die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds gab. Der Autor zweifelt an einer Lieferbeschränkung auf die zivile Bevölkerung: Einige Handelsrouten in Russland seien erst nach dem Angriff auf die Ukrai­ne etabliert worden, zudem in Regionen, in denen zuletzt verstärkt Soldaten rekrutiert worden seien. „Wir haben eine klare Guidance“, sagt die Sprecherin von Ottobock dazu. „Wir liefern nicht an sanktionierte Unternehmen.“

Man bräuchte mehr Mut, um die ukrainischen Orthopädietechniker zu fragen, ob sie es in Ordnung finden, dass ihr Prothesenhersteller auch russische Amputierte versorgt. Stattdessen frage ich einen von ihnen, was er sich vom Training verspricht. „Deutsche Präzision“, sagt er und es ist nicht herauszuhören, ob da Ironie mitschwingt. Ist die deutsche Präzision nicht ein Klischee? „Ich habe es mit Leben gefüllt gefunden“, sagt er. „Man arbeitet genau. Es geht hier nicht darum, wie man es will, sondern wie es sein soll.“

Der Techniker war früher Unfallchirurg, kurz vor Ausbruch des Krieges hat er umgesattelt. „Es war schon lange mein Hobby“, sagt er. „Ich binde nicht nur zusammen wie bei der Chirurgie, sondern erschaffe etwas Neues.“ Später wird ein Mitarbeiter von Ottobock anmerken, dass ein Orthopädietechniker in der Ukraine derzeit mehr verdient als ein Arzt.

Und noch eine Frage, die unwirklich wirkt in der Lounge von Ottobock mit dem großen Bildschirm an der Wand und den jungen Mitarbeitenden, die aus einem Werbefilm stammen könnten: Sind Prothesen Alltag geworden in der Ukraine? Und macht es das leichter für diejenigen, die ihre Arme oder Beine verloren haben? Der Techniker zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt einen rosafarbenen Minni-Mouse-Aufkleber. Die Anwender klebten so etwas auf den Schaft sagt er, außer denen, die älter als 60 sind, die wollten die Prothesen verbergen.

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