Polarisierung in der Pandemie: Das Verbindende erkennen
Wie ist Verständigung und Annäherung möglich? Ein Essay über Selbstgewissheit, Ambiguitätstoleranz und die Säbelzahnkatze hinterm Höhleneingang.
E s war im November, als ich jeden Tag an zwei Frauen vorbeilief, die in der Bremer Fußgängerzone auf ihren Koffern schliefen. Eines Nachmittags hockte ein etwa 30-jähriger Mann vor den beiden. Was ich in dem Moment noch nicht wusste: Er würde gleich mein Weltbild durcheinanderbringen.
Die Jüngere, es waren Mutter und Tochter aus Polen, wie ich zuvor erfahren hatte, begann ihn nach kurzer Zeit anzuschreien. Er eilte davon und blieb in 50 Metern Entfernung stehen. Ich sprach ihn an.
Mit seiner hellen Daunenjacke, dem akkurat geschnittenem Bart und Haar sah er zwar nicht so aus, aber womöglich, so dachte ich, käme er von der Hilfsorganisation, die ich auf die Frauen aufmerksam gemacht hatte. Er verneinte, er habe nur helfen wollen. Doch weil er Russisch sprach, habe die Frau ihn wohl verjagt. Er sei Deutschrusse, fügte er hinzu, „so nennt man uns“.
Und dann redeten wir. Über Putin, Trump, den Klimawandel, ob der deutsche Staat Menschen wie den beiden Polinnen helfen sollte, ob man Berichten in herkömmlichen Medien mehr Glauben schenken könne als denen in sozialen. Zu allem hatten wir eine andere Meinung.
Superspreader. Impfdurchbruch. Impfneid. Herdenimmunität. Geisterspiele. Osterruhe. 1G. 2G. 3G plus. Maskenmuffel. Booster. Helden des Alltags. Covidioten. Na, was geht in Ihnen vor, wenn Sie diese Begriffe lesen? Beklemmung, Abwehr – oder etwa Nostalgie? Der Beginn der Covid-19-Pandemie jährt sich zum fünften Mal, und während die taz-Redaktion normalerweise sehr begeisterungsfähig ist für Sonderseiten zu Jahrestagen aller Art, liefen die ersten Planungsrunden hier eher schleppend an.
Corona? Danke nein, da halten die Leute am Kiosk ganz freiwillig mindestens anderthalb Meter Abstand. Zu nah, zu schmerzhaft, zu kacke war diese Zeit, die Lücken in Familien und Freundeskreise riss, weil jemand starb oder sich abwandte. Die nachweislich bei vielen Spuren in der Psyche hinterließ, insbesondere bei jungen Menschen. Die Krankheitsverläufe hervorbrachte, die den Alltag vieler Menschen auch heute noch massiv einschränken.
Wie also würdigen, dass fünf Jahre vergangen sind – so, dass man es auch lesen will? In Brainstormingrunden kamen wir auf die wildesten Ideen. Wie wär’s denn mit Corona-Sonderseiten, auf denen wir Corona nicht erwähnen? Alles irgendwie auf der Metaebene verhandeln, mit einer Reportage aus einem Ort, an dem es Corona nie gab (dem polynesischen Inselstaat Tuvalu zum Beispiel) oder ein Interview mit Christian Drosten führen, aber übers Fliegenfischen und die Trendfarbe der Saison (ein warmer Braunton).
Wir haben Christian Drosten dann tatsächlich angefragt – nachdem wir eingesehen hatten, dass die Pandemie ausreichend offene Fragen hinterlassen hat, um sich in einem Dossier ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Und so spricht unsere Gesundheitsredakteurin Manuela Heim mit Deutschlands bekanntestem Virologen über im Labor erzeugte Viren und warum zu seiner Verwunderung auch 2025 noch immer kein Beleg dafür vorliegt, dass die Pandemie einen natürlichen Ursprung hatte.
In einer langen, sehr persönlichen Reportage erzählt unsere Kollegin Shayna Bhalla von ihrer Long-Covid-Erkrankung, die Anfang 2022 begann, als die Menschen um sie herum langsam wieder in Clubs oder auf Reisen gingen. Mit Anfang 20 musste sie lernen, dass Belastung bedeuten kann, sich die Haare zu kämmen. Und dass sie diese Ungewissheit in ihrem Leben so schnell nicht loswird.
Eiken Bruhn beschäftigte sich während der Pandemie viel damit, was dieses Virus gesellschaftlich so anrichtet – und fragt sich heute, ob sie selbst damals zu vorschnell vermeintliche Lösungen herbeischrieb. Ihr Text ist ein Plädoyer, dem Gegenüber zuzuhören – und wirklich verstehen zu wollen, warum jemand denkt, wie er denkt.
Unsere Kolumne „Starke Gefühle“ übernehmen diese Woche sechs Schülerpraktikant:innen. Sie berichten von techniküberforderten Lehrer:innen, von ausgefallen Skifreizeiten, von Einsamkeit, aber auch von Zusammenhalt trotz Lockdowns. Gleich daneben steht die Antwort auf die Kinderfrage einer Zehnjährigen, ob Corona denn jetzt schlimmer als die Pest war.
Und schließlich erklärt Lukas Heinser, was alles Schönes von der Pandemie geblieben ist. Vom In-die-Armbeuge-Niesen über Desinfektionsspender-Mahnmale bis hin zu „Stand jetzt“ – der Formulierung, die jede mittel- bis langfristige Planung infrage stellt, die uns zeigt: Alles ist Gegenwart, alles kann sich sofort und vollständig verändern.
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre, und: Bleiben Sie gesund! Leonie Gubela
Wir stritten nicht, sondern hörten einander zu, nach dem Motto „Ach guck, so kann man es auch betrachten“. Es fing an zu regnen, wir redeten weiter. Die Weltpolitik ließen wir schnell hinter uns. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung angesichts der Nachrichtenlage (es waren die Tage nach der US-Wahl und dem Ampel-Aus), er von seinen Ängsten, nicht gemocht zu werden.
Wir waren zwei Fremde, er gut 20 Jahre jünger als ich, ein Ingenieur, der irgendetwas über das Internet vertrieb. Es ist unwahrscheinlich, dass sich unsere Wege an anderer Stelle gekreuzt hätten. Am Ende umarmten wir uns und tauschten Telefonnummern.
In zwei Lager gespalten?
„Mensch, das ist doch das Thema, das uns seit Corona umtreibt!“, sagte eine befreundete Kollegin, der ich von dieser Begegnung erzählte, von meinem Staunen darüber, dass ich jemanden mag, der über Russlands Krieg sagt, man müsse beide Seiten sehen, und findet, Donald Trump sage ganz vernünftige Sachen. Was die Kollegin meinte: In der Pandemie sei offenbar geworden, wie wenig Verständigung möglich ist, wenn jemand anders denkt.
Während die einen fassungslos zusahen, dass Menschen auf „Hygiene-Demos“ gingen, konnten die anderen kaum glauben, dass man sich freiwillig gegen das Virus impfen ließ. Als gesellschaftliche „Polarisierung“ wird dieser Prozess bezeichnet. Es ist wissenschaftlich umstritten, ob die deutsche Gesellschaft wirklich in zwei Lager gespalten ist wie etwa die USA. Und ob die Coronazeit ein Auseinanderdriften beschleunigt oder nur sichtbar gemacht hat – zu dieser Frage wollen Wissenschaftler:innen der Universität Mainz in den nächsten Wochen erste Ergebnisse vorlegen.
Jetzt, ein paar Jahre später, entzünden sich aggressiv geführte Debatten an Waffenlieferungen für die Ukraine, am Krieg in Gaza, an Gendersternchen. Die Liste ist lang. Selbst wenn es um die beste Behandlung von Wechseljahresbeschwerden geht, scheint es stets nur eine Position zu geben, der man sich anschließen kann.
Hormone, ja oder nein? Hopp oder topp? Fahrrad oder Auto? Opfer oder Täter? Zwischentöne werden überhört, sie liefern keine Schlagzeilen, verbreiten sich schlechter in sozialen Medien. Und nein, einseitige Schwarzweißmalerei betreiben nicht immer nur „die anderen“, die Querdenker, Trump- und AfD-Wähler, die Putinversteher, Hamasfreunde, Sexistenrassistentransphobenkackarschnazis. Sondern alle, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben.
Mir wurde dies erst während der Pandemie bewusst, in meiner eigenen Branche, dem Journalismus. Ich staunte oft über die Gewissheit, mit der manche Kolleg:innen den Verantwortlichen sagten, was sie tun müssten. Lockdown, Impf- oder Maskenpflicht – immer schien es einen glasklaren Weg aus der Pandemie zu geben. Bei aller Skepsis gegenüber einfachen Lösungen: Manchmal schrieb ich sie selbst herbei. So war ich mir lange sicher, dass die Entscheidung der Bremer Landesregierung, Schulen und Kitas weitgehend offenzuhalten, fahrlässig war.
Wir sollten uns auf die Finger gucken dürfen
Mitgenommen habe ich aus dieser Zeit, dass wir Journalist:innen uns gerne häufiger selbst auf die Finger gucken dürfen. Dennoch soll dieser Text keine Einladung zu pauschaler Medienschelte sein. Die spielt denen in die Hände, die unabhängige Medien abschaffen wollen.
So gab es in der Pandemie eine überwiegend gute, ausgewogene Berichterstattung – zu diesem Schluss kommt eine von der Bundesregierung geförderte Studie. Aber es gab eben auch die weniger ausgewogene.
Da schrieben Kolleg:innen, unter anderem in der taz, in abwertendem Tonfall über Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, gebrauchten synonym den Begriff „Impfgegner“, „Coronaleugner“, „Querdenker“ und sogar „Schwurbler“, größtenteils ohne zu differenzieren zwischen denen, denen Coronamaßnahmen zu weit gingen, und denen, die die Pandemie nutzten, um ihre antidemokratischen Ideen zu verbreiten.
Letzteres teils unter Anwendung von Gewalt wie im August 2020 beim „Sturm auf den Reichstag“ in Berlin oder Fackelzügen vor Privathäusern von Politiker:innen.
Die gereizte Stimmung, die sich in dieser Zeit erstmals so stark bemerkbar gemacht hat und zum Dauerkrisenmodus dazuzugehören scheint, lässt sich auch mit Angst erklären. Das ist nach Ansicht der meisten Emotionsforscher:innen ein überlebenswichtiges Gefühl: Es schützt vor Gefahren und entsteht, wenn wir nicht wissen, was kommt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ob die Säbelzahnkatze hinter dem Höhleneingang lauert, uns ein unbekanntes Virus dahinrafft, eine Impfung mehr schadet als nutzt, unsere Art zu leben und zu denken in Zukunft noch gefragt ist.
Das Problem: In einer zunehmend komplexen Welt fällt es Menschen mit ihren Steinzeitgehirnen auf die Füße, dass sie übersichtliche Verhältnisse brauchen, um sich sicher zu fühlen. Sobald wir sortieren, schaffen wir eine neue Gefahrenquelle. Die Fähigkeit, Ambiguität auszuhalten, scheint dabei unterschiedlich stark ausgeprägt. Populistische Parteien nutzen das aus, indem sie Eindeutigkeit versprechen.
Das Verbindende beschreiben
Auch Menschen, die anders sind als man selbst, könnten eine ängstigende Verunsicherung auslösen, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner in einem Zeit-Interview. „Wenn jemand anders spricht, anders aussieht, andere Musik lieber mag, schafft das Unsicherheit.“ Werde Angst nicht adressiert, könne sie wachsen – „und in Hass münden“. Nicht alle hätten die emotionale Reife, das zu verhindern, sagt Urner. Um dem entgegenzuwirken, helfe es, Begegnungen zu schaffen. „Den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen.“
Dass geteilte Erfahrungen effektiv gegen Polarisierung helfen, haben Wissenschaftler:innen in Experimenten nachgewiesen. Unter anderem Maren Urner sieht hier auch Medien in der Verantwortung. Ende 2021 auf dem Höhepunkt der „Coronamüdigkeit“ hatte sie in einem Gastbeitrag in der taz Journalist:innen dazu aufgefordert, nicht immer nach gegensätzlichen Positionen zu suchen und das Verbindende zu beschreiben.
Auch meine Begegnung mit dem jungen Mann wurde möglich aufgrund einer geteilten Erfahrung: der Sorge um die obdachlosen Frauen. Vielleicht half auch, dass wir vor allem über Persönliches sprachen – anstatt Angelesenes zu referieren, wie vor ein paar Jahren all die Hobby-Virolog:innen oder heute viele Aushilfs-Nahostexpert:innen.
Ein ungeheuerlicher Gedanke, den ich mich als politische Journalistin kaum zu schreiben traue: Wie wäre es, nur noch über das zu reden, was mit eigenen Erfahrungen verknüpft ist? Diese Frage stellte kürzlich der Schriftsteller George Saunders in einem im New Yorker erschienenen Essay. Und noch dazu, wer von dem permanenten Streit in immer denselben Argumentationsbahnen profitiere, und: wer diese Bahnen bereitstelle.
Während des Gesprächs im November ertappte ich mich dabei, wie ich auf einer dieser Bahnen unterwegs war, als ich Donald Trump aufgrund von Artikeln, die ich über ihn gelesen hatte, als „durchgeknallt“ bezeichnete. Mein Gegenüber wiederum hatte ein dreistündiges Interview mit ihm gehört und fand, deutsche Medien würden seine Aussagen aus dem Zusammenhang reißen.
Ex-„Pick-up-Artist“
Es geht nicht darum, wer von uns beiden recht hat, es geht auch nicht darum, Meinungsunterschiede zu negieren. Die Verständigung gelang, glaube ich, weil wir uns nicht auf zwei Seiten eines Tennisfelds als Kontrahenten gegenüberstanden. Sondern an der Seitenlinie und von dort aus das Netz betrachteten.
Ich erlebte auch, wie schnell es kippen kann. Er habe sich wenig mit dem Klimawandel beschäftigt, hatte mein Gesprächspartner gesagt, weil die Auseinandersetzung mit seinen sozialen Ängsten einen großen Teil seines Lebens einnehme. Erst am Wochenende sei er in eine europäische Hauptstadt geflogen, um dort einem Influencer zuzuhören, mit dessen Hilfe er selbstbewusster geworden sei.
Zu Hause googelte ich dessen Namen – und war entsetzt. Es handelte sich um einen ehemaligen „Pick-up-Artist“, einen Mann, der anderen Männern gegen Geld zeigt, wie sie Frauen ins Bett bekommen. Vor Jahren berichteten weltweit Medien über eine erfolgreiche Kampagne gegen ihn. Der Vorwurf: Aufruf zu Gewalt gegen Frauen. Ich war so schockiert, dass ich zunächst nicht weiter recherchierte. Dann hätte ich erfahren, dass er sein damaliges Handeln heute als Ausdruck eines Selbsthasses deutet, den er erfolgreich bekämpft haben will. Seine Methode gibt er jetzt in solchen Workshops weiter, wie ihn mein Gesprächspartner besucht hatte.
Aufgrund der wenigen Sätze, die als Erstes über meinen Laptopbildschirm flimmerten, warf ich die Sortiermaschine an – und fürchtete mich. War er einer von denen? Hatte ich mich täuschen lassen? Vergessen war in dem Moment, dass ich den Kontakt als authentisch erlebt hatte, ohne doppelten Boden.
Als ich der Kollegin am Telefon von meiner Sorge erzählte, dem Falschen meine Telefonnummer gegeben zu haben, erinnerte sie mich daran, dass ich das getan hatte, als ich schon wusste, wie unterschiedlich wir ticken. Entscheidend sei nicht, sagte sie, was wir denken, wen wir wählen oder wem wir auf Instagram folgen. Sondern, ob wir wissen wollen, warum der oder die andere das macht.
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