Nach der Flutkatastrophe in Spanien: Auferstehen aus dem Schlamm
Die Stadt Paiporta gilt als „Ground Zero“ für die Überschwemmungen im Oktober 2024 im Spanien. Drei Monate später sind die Aufräumarbeiten mitten im Gange.
A lles hinschmeißen? Das kam mir nie in den Sinn“, sagt Carmen Rausell mit fester Stimme. Am 29. Oktober verwandelte sich der Fluss Barranco del Poyo mitten in Paiporta binnen Minuten in einen reißenden Strom, trat über das Ufer und überschwemmte den gesamten 28.000 Einwohner zählenden Ort wenige Kilometer südlich der spanischen Mittelmeerstadt Valencia. Mittendrin die Apotheke Farmacia del Mercat von Carmen Rausell.
Als die 60-jährige Frau zwei Tage nach der Katastrophe wieder ihr Geschäft aufsuchte, erwartete sie ein Bild der Zerstörung. Knapp ein halber Meter Schlamm bedeckte die Räume der erst vor vier Jahren eingeweihten „Apotheke am Markt“. Das Wasser war zeitweise auf deutlich über zwei Meter angestiegen, so zeigt es bis heute eine Linie an den Wänden. Regale, Medikamtenschränke, Waren – einfach alles wurde zerstört. Selbst Wände und Schaufenster hatten dem Druck der Fluten nicht standgehalten.
Das Wasser stand einen halben Meter hoch
Rausell hatte am Tag der verheerenden Dana, wie in Spanien isolierte Tiefdruckgebiete mit Starkregen genannt werden, sich freigenommen. „Mein Mann hatte Geburtstag. Ich war mitten inden Vorbereitungen für den Abend, als das Telefon klingelte“, berichtet sie mit gedrückter Stimme. Am Apparat war eine Angestellten, die sich zusammen mit zwei weiteren Personen in der Apotheke befand. Wasser dringe langsam ein, die Straße sei bereits überschwemmt. Rausell wies sie an, zu schließen. Es war gegen 18.15 Uhr. Wenig später ein erneuter Anruf. Das Wasser stand bereits einen halben Meter hoch.
Live am Handy wurde Rausell Zeugin eines Dramas. Die drei retteten sich durch ein Fenster in den kleinen Lichthof im Inneren des Gebäude. Dort war kein Wasser. Bis plötzlich die Wand des Gebäudes nachgab und binnen weniger Sekunden die Fluten auch dort auf Brusthöhe anstiegen. Die drei klettern auf Fenstersimse, das Wasser stieg und stieg. „Eine ausweglose Situation, denn der Innenhof ist nach oben mit einem Gitter versehen, als Einbruchschutz“, sagt Rausell. Ihr ist selbst jetzt, Monate später, noch immer die Panik anzumerken, die sie hilflos am Handy durchlebte. Zum Glück hatten zwei Nachbarn in den oberen Stockwerken Metallsägen und lösten zwei Stäbe aus dem Gitter. Rausells Mitarbeier konnten endlich nach oben entkommen.
Während Rausell am Telefon hing, versuchten ihr Mann und Sohn derweil, mit dem Auto von ihrem Wohnort 15 Kilometer nördlich zur Apotheke zu kommen. Doch dann wurden auch sie von den Fluten überrascht und konnten sich nur knapp retten. Das Auto blieb in den Fluten zurück.
Das Wasser hatte alle überrascht. Denn in Paiporta und den meisten anderen betroffenen Gemeinden hatte es an jenem Tag nicht einmal geregnet. Und Warnungen seitens der Regionalbehörden, die für Katastrophenschutz zuständig sind, dass eine riesige Flut auf sie zukam, gab es erst, als längst alles unter Wasser stand und viele um ihr Leben kämpften. 46 Menschen starben alleine in Paiporta. 224 waren es im gesamten Überschwemmungsgebiet.
Alle 450 Geschäfte wurden zerstört
„Zone Cero“ – „Ground Zero“ – wird Paiporta seit jenem Tag genannt. Alle 450 Geschäfte wurden wie die Apotheke zerstört. Den Schaden für die Renovierung ihres Ladens schätzt Rausell auf mindestens 200.000 Euro. Von der Regionalregierung Valencia sowie aus Madrid hat sie 15.000 Euro Soforthilfe erhalten. Wie viel ihr die Versicherung zahlen wird, weiß sie noch nicht.
Mittlerweile bedient Rausell wieder ihre Kunden. Neben dem eigentlichen Ladenraum, der noch renoviert wird, hat sie ein kleines Lokal für den Kundenverkehr geöffnet – ihr früheres Büro. Rezeptfreie Schlaftabletten und Beruhigungsmittel, aber auch verschreibungspflichtige Psychopharmaka werden seit jenem Katastrophentag am meisten nachgefragt.
Zwischen Kunde und Kundin klärt Rausell mit zwei Schlossern die Details für die neue Eingangstür. Wann sie es brauche? „Am besten gestern“, antwortet sie und bekommt die Zusage, als Opfer der Überschwemmung ganz oben auf der Liste der Kunden zu stehen. Doch sie weiß, dass sie nicht die Einzige ist, der dies versprochen wird. Denn kein einziges Gebäude in Paiporta blieb verschont. Überall wird gearbeitet. 110 der 450 Geschäfte sind wie die Apotheke wieder in Betrieb, wenn auch nur provisorisch.
Ein Foto dieser Straßenecke ging um die Welt
„Mindestens die Hälfte der Geschäfte wird wohl nicht wieder öffnen“, befürchtet Ignacio Herraiz. Der 78 Jahre alte pensionierte Schreiner geht Tag für Tag die gleiche Strecke durch Paiporta und beobachtet den Fortschritt der Arbeiten. Er wohnt unweit der Ecke Carrer Antonio Machado und Carrer Convent. Ein Foto dieser Straßenecke ging eine Woche nach der Überschwemmung durch die Welt: Schlamm, zerstörte Möbel und kaputte Autos sind darauf zu sehen. Drei Männer mit Gummistiefeln und Besen blicken ratlos umher.
„Gleich hier ging eine Fußgängerbrücke über den Barranco. Sie wurde von den Fluten weggerissen“, sagt Herraiz und zeigt auf eine Absperrung, hinter der das Ufer weggerutscht ist. Der riesige Barranco – um die 10 Meter tief und über 50 Meter breit – ist mittlerweile wieder leer. Ein Bagger steht unten, um das Flussbett zu säubern. Die Straßenbrücken sind wieder offen, auch wenn die Randbefestigung durch mobile Elemente ersetzt werden musste. Herraiz wohnt im ersten Obergeschoss. Er schaute mit an, wie „das Wasser Autos mitnahm, als wäre die Straße eine Kegelbahn“. In seinem Haus stieg das Wasser auf über eineinhalb Meter. Er saß im Trockenen. Aber: „Wir waren tagelang eingeschlossen, der Aufzug ging nicht, die Straße war völlig blockiert. Die Eingangstür war versperrt“, erinnert er sich.
Seither hat sich viel getan. Die Straßen sind sauber, die kaputten Autos und der Müll stapeln sich außerhalb der Kleinstadt auf riesigen Brachflächen. Der Geruch nach Schlamm ist in den Straßen von Paiporta noch immer allgegenwärtig.
Ob es schnell genug vorangeht? Herraiz hat darauf keine Antwort. Nur bei einem ist er sich sicher: „Nichts wird mehr sein, wie es war.“ Starke Regenfälle habe es immer wieder gegeben, aber so stark, dass der Barranco so hoch über die Ufer tritt, das sei neu. „Das wird wohl jetzt immer öfter geschehen“, ist sich der alte Mann sicher. „Wir haben den Planeten zerstört“, fügt er hinzu. „Die kommenden Generation werden es alles andere als leicht haben. Klimawandel, schlechte Arbeitsverhältnisse, Wohnungsnot …“
Dann beginnt er zu machen, was alle im Ort ständig tun: schimpfen auf die Politik. „Viel Blabla und wenig Taten“, wiederholt er einen Satz, der überall zu hören ist. „Ich hoffe, dass die Hilfsgelder dieses Mal wirklich ankommen“, sagt er und zitiert als Negativbeispiele das Erdbeben im südspanischen Lorca 2011 und die Überschwemmungen rund um Valencia 1957. Wer im Überschwemmungsgebiet leben muss, dem geht es eben nie schnell genug, auch wenn dieses Mal die Hilfen an viele, wie an Rausell, bereits ausgezahlt wurden.
Direkt gegenüber, dort wo die Fußgängerbrücke hinführte, stehen Menschen Schlange. Sie wollen ins Rathaus, das wieder notdürftig für den Publikumsverkehr hergerichtet wurde. Dieser Tage gibt es Hilfen für verlorene Fahrzeuge. 2.000 Euro pro Pkw, 250 für ein Motorrad, 200 fürs Moped.
Auch hier schimpfen sie auf die Politik. „Alle sind gleich“, urteilt ein Mann auf die Frage, wer es schlechter gemacht habe, die konservative Regionalregierung oder die linke Zentralregierung in Madrid. Dass Madrid über 16 Milliarden Euro Hilfe und die Regionalregierung nur rund 800 Millionen zur Verfügung stellt, dass die einen die Armee schickten, während die anderen nicht einmal warnten, spielt für ihn keine Rolle. Auch die Zahl der Toten bezweifeln hier viele. „Die war viel höher als angegeben“, sind sie sich sicher, auch wenn auf Nachfrage keiner einen Fall eines Verschwunden kennt, der nicht auf der Opferliste steht.
„Weder Mazón noch Sánchez können hierher kommen, ohne dass sie durch die Straßen gejagt werden“, sagt ein Mann. Tatsächlich waren Regionalpräsident Carlos Mazón, Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez und König Felipe VI. bei ihrem Besuch in der Stadt wenige Tage nach der Dana mit Schlamm beschmissen worden. Mehrere Menschen versuchten sogar, auf sie einzuschlagen. Sánchez wurde von seinen Leibwächtern weggeführt, der König hielt aus.
Auch Bürgermeisterin Maribel Albalat verließ an jenem Tag fluchtartig den Ort. „Anders als der König habe ich keine Leibwächter“, sagt die 47-jährige Sozialdemokratin, die seit 2021 der Gemeinde vorsteht, der taz. „Wir in der Ersten Welt sind es gewohnt, dass alles funktioniert: Wasser, Strom, Handy. Plötzlich war das nicht mehr so. Das führte zu einem Gefühl, allein gelassen zu sein“, versucht sie die Stimmung in der Bevölkerung zu erklären.
„Mir gefällt es ganz und gar nicht, dass solche Notlagen benutzt werden, um Politik zu machen. Das ist nicht moralisch“, fügt sie hinzu. Deshalb wolle sie weder die Regierung in Valencia noch die in Madrid beschuldigen, für die Misere verantwortlich zu sein. „Da mache ich nicht mit. Ich will, dass sie ihre Arbeit tun und ihre Streitigkeiten beiseitelassen“, sagt sie und meint damit unter anderem einen Plan von 2007, der nie umgesetzt wurde.
Dieser sah die Umleitung eines Teiles der Zuflüsse des Barranco del Poyo in den Fluss Turia vor, damit in Paiporta nicht so viel Wasser ankommt. „Ich weiß nicht, ob das die Lösung gewesen wäre. Aber wir müssen nach Maßnahmen flussaufwärts, und auch auf Gemeindeebene, suchen, damit dies nicht wieder passiert. Und wir brauchen ein besseres Warnsystem. Wären wir gewarnt worden, hätte es weniger Tote gegeben“, sagt Albalat.
Maribel Albalat, Bürgermeisterin
Sie als Bürgermeisterin bekam gegen Mittag einen Hinweis, dass der Fluss steigen würde. Dass er über das Ufer treten würde, davon war nicht die Rede. Um 18.15 Uhr drang dann das Wasser in ihr Haus 150 Meter vom Ufer entfernt ein. Da führte der Fluss zehnmal so viel Wasser wie mittags angekündigt. Die Tragödie nahm ihren Lauf.
Paiporta befinde sich „nach wie vor in einer schwierigen Lage“. Zwar gibt es wieder Strom und Wasser, das Rathaus und das Gesundheitszentrum sind geöffnet. Aber von acht Schulen funktionieren nur sechs, die Kinder von zwei anderen sind in Nachbarorten untergebracht. Der Markt ist nur zu 80 Prozent in Betrieb. Das Dorfmuseum hat all seine Exponate verloren, die Bibliothek einen Teil der Bestände. Das Abwassersystem funktioniert nur zu 80 Prozent. Die Straßenbeleuchtung ist nur provisorisch wiederhergestellt. Überall wurden in aller Eile Kabel gespannt, Generatoren oder Batterien angeschlossen. Die Schäden nur an öffentlicher Infrastruktur – ohne Brücken und Straßen – beträgt über 115 Millionen Euro. „Es ist noch sehr viel zu tun“, sagt Albalat. „Bis alles wieder ist, wie es war, werden wohl Jahre vergehen.“
Während die Freiwilligen wieder weg sind, arbeiten noch immer rund 800 Soldaten in Paiporta. „Als ich hier ankam, erinnerte mich alles an meine internationalen Kriseneinsätze“, sagt Hauptfeldwebel Sergio Darias. „Es gibt noch immer Trümmer, die weggeräumt werden müssen, um die Gegend endgültig zu sanieren, die Infrastrukturen zu reparieren und so etwas wie Alltag möglich zu machen“, erklärt der 46-jährige Darias, der im normalen Militärleben Fluglotse auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Madrid ist und sich wie die anderen freiwillig zum Einsatz im Katastrophengebiet gemeldet hat.
Auf die angespannte Stimmung im Ort angesprochen, schüttelt er den Kopf. Das interessiere ihn nicht. „Uns empfangen sie mit offenen Armen. Ich erlebe hier vor allem die Fähigkeit der Menschen, nach vorn zu schauen und wieder aufzustehen“, sagt er.
Doch viele wollen nicht nur nach vorn schauen, sondern aufarbeiten, was war, so etwa Christian Lesaëc. „Wir müssen untersuchen, wer und was am 29. Oktober versagte“, erklärt der 55-jährige Französischlehrer. Er steht der „Vereinigung der Opfer der Dana“ vor und wohnt mit Frau und zwei Kindern in einem Reihenhaus im Nachbarort Alfafar. Hier stieg das Wasser auf Kopfhöhe. „Kein Strom, kein Handy, kein Internet, das Auto kaputt, die Siedlung war zwei Tage lang völlig von der Außenwelt abgeschnitten, bis die ersten Freiwilligen kamen“, beschreibt Lesaëc die Verletzlichkeit modernen Lebens. „Wir wussten nicht einmal, ob wir die Einzigen waren oder ob es mehr Dörfer betraf“, fügt er hinzu. Nach einem Transistorradio mit Batterien gefragt, schüttelt er nur den Kopf. „Altmodisch, alle hören Radio übers Internet.“ Jetzt will er sich einen kleinen Apparat zulegen – „für alle Fälle“.
„Wir wurden vom Wasser überrascht, als wir vom Einkaufen zurückkamen. Niemand hatte uns gewarnt, und anschließend kam niemand, um uns zu helfen“, beschwert sich Lesaëc, der zusammen mit einem Anwaltsteam prüft, ob sie Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die Verwaltung der Regionalregierung und eventuell auch gegen die in Madrid stellen können.
Apothekerin Rausell will von Protesten nichts wissen. „Wir müssen unsere Probleme lösen, die politischen Streite helfen dabei nicht“, meint sie. „Manchmal bin ich einfach nur noch müde“, sagt die Frau dann. Warum sie dennoch durchhält? „Mein Sohn ist auch Apotheker. Ich mache es für die nächste Generation“, antwortet sie. „Wir müssen mit den neuen Bedrohungen leben und uns anpassen“, sagt Rausell. „Deshalb werden wir unter anderem das Gitter im Innenhof durch eine Klappe ersetzen, damit eine Flucht nach oben jederzeit möglich ist.“
Drei Monate nach der Dana will Rausell die einstigen Geschäftsräume wieder beziehen, auch wenn es nur einen Rollladen und keine Tür und Schaufenster gibt. „Ich brauche den großen Raum, egal wie kalt es ist“, sagt Rausell und wendet sich wieder ihren Kunden zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
+++ CDU bildet Mehrheit mit AfD ++
Die Brandmauer ist down
Merz´ Tabubruch
Die Abrissbirne der Demokratie
Antrag auf ein Parteiverbot
Merz ist kein Opfer der AfD
Absurde Wahlplakate
Ist das noch Wahlkampf oder schon Stalking?
Gotteshäuser kritisieren Asyldebatte
Kirchen kanzeln die Union ab
Liberale in der Union
Wo bleibt der Widerspruch?