: „Die gleiche Verwaltung, die die Bebauung zuließ, muss diese jetzt ändern“
Interview Reiner Wandler
taz: Hätten die Überschwemmungen vom 29. Oktober durch entsprechende Baumaßnahmen an den Flüssen vermieden werden können?
Sergio Palencia Jiménez: Nein, das glaube ich nicht. Die Katastrophe ist das Ergebnis einer Entwicklung seit den 1950er Jahren. Es war ein langer Prozess, der zur Bebauung des Umlandes von Valencia führte. Dabei spielte die Frage, ob es sich um Überschwemmungsgebiet handelt oder nicht, keinerlei Rolle.
taz: Viele Betroffene sprechen immer wieder von einem Plan aus dem Jahr 2007, der nie umgesetzt wurde. Hätte dieser Plan denn nicht geholfen?
Sergio Palencia Jiménez: Dieser Wasserplan und die dort vorgesehenen Baumaßnahmen hätten vielleicht die Katastrophe verringert, verhindert hätten sie sie nicht. Denn die Pläne waren nicht für so starke Hochwasser ausgelegt, wie wir es jetzt erlebt haben. Das Klima hat sich verändert und mit ihm die Niederschlagsmengen bei Starkregen und vermutlich auch deren Häufigkeit. Im Plan ging darum, einzelne Zuflüsse des Barranco del Poyo in den Fluss Turia umzuleiten. Der Plan war auf ein Hochwasser ausgelegt, wie es statistisch einmal in 500 Jahren möglich ist. Was wir jetzt erlebt haben, war so unwahrscheinlich, dass es den Berechnungen zufolge einmal alle 1.000 bis 2.000 Jahre passiert.
taz: Alle 500, alle 2.000 Jahre, können Sie das etwas genauer erklären?
Sergio Palencia Jiménez: Das ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das heißt aber nicht, dass es in 500 Jahren passiert. Es kann morgen passieren. Wie beim Lotto: Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dennoch gewinnt jede Woche jemand. Keiner kann vorhersagen, wann das, was wir erlebt haben, wieder geschieht.
taz: Was kann getan werden?
Sergio Palencia Jiménez: Das kann man noch nicht sagen. Dafür müssen wir die Katastrophe zunächst von allen Seiten beleuchten. Wir haben gebaut, wo es nicht angebracht war. Jetzt müssen wir umdenken.
taz: Und ganze Siedlungen und Industriegebiete abreißen?
Sergio Palencia Jiménez: Das ist realistischerweise nicht möglich. Wir befinden uns nahe Valencia, die Region ist komplett zugebaut. Wir müssen analysieren, welche Gebiete bebaut wurden, ohne dass sie sicher sind, um einen Teil davon umzusiedeln und vor allem auszudünnen, um an den am meisten gefährdeten Stellen Korridore für das Wasser zu schaffen. Und weiter flussaufwärts müssen wir dafür sorgen, dass das Wasser im Fall der Fälle vor allem landwirtschaftliche Fläche überschwemmt.
taz: Das heißt: dem Fluss Ausweichmöglichkeiten geben?
Sergio Palencia Jiménez: Genau. Alles in den 1950 geschaffenen Flusslauf des Turia umzuleiten ist nicht die Lösung, denn der hat auch nur ein beschränktes Fassungsvermögen.
taz: Doch all das wird sicher nicht dazu führen, dass kein Wasser mehr in die Gemeinden eindringt. Paiporta zum Beispiel liegt schon immer am Fluss. Was kann dort geändert werden?
Sergio Palencia Jiménez(55), Bauingenieur sowie Professor für Städteplanung an der Technischen Hochschule in Valencia (UPV)
Sergio Palencia Jiménez: Eines der größten Probleme ist, dass alle Straßen mit Autos zugeparkt sind. Die wurden vom Wasser mitgerissen und türmten sich zu Dämmen auf. Das Wasser stieg dadurch noch mehr und bekam die Kraft, Wände einzudrücken. Wir müssen die Straßen von den Autos befreien, damit das Wasser im Notfall besser zirkulieren kann.
taz: Seit 2003 gibt es einen Bebauungsplan, der Überschwemmungsgebiete ausweist. Hat das etwas geändert?
Sergio Palencia Jiménez: Das überschwemmte Gebiet ist weitaus größer als das, das auf den entsprechenden Karten vermerkt ist. Auch wenn seit 2003 die Auflagen erfüllt wurden, heißt das nicht, dass nur in sicheren Gebieten gebaut wurde.
taz: Es ist sicher nicht leicht, den Menschen zu erklären, dass sie umgesiedelt werden müssen, um dem Wasser Platz zu lassen?
Sergio Palencia Jiménez: Das ist eine Aufgabe, die viel Pädagogik erfordert. Es geht nicht darum jetzt schnell, schnell zu machen. Es ist erst einmal notwendig, genau zu planen, wo eingegriffen werden muss und kann, um den Städtebau zu verändern. Es geht nicht darum, Menschen aus ihren Dörfern zu vertreiben, sondern in den Dörfern Alternativen zu suchen. Die gleiche Verwaltung, die die Bebauung zuließ, muss diese jetzt ändern. Wir können damit beginnen, denjenigen, deren Häuser schwer beschädigt wurden, neue, sichere Bauplätze zu geben, anstatt dort wieder aufzubauen, wo die Katastrophe alles zerstört hat.
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