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5 Jahre CoronavirusWas von der Pandemie übrig blieb

Die Coronazeit war bitter, aber sie hat auch gesellschaftlichen Fortschritt gebracht. Und das war mehr als bloß Homeoffice.

Was bleibt: gemütliche Variante im homeoffice Foto: Mathieu Thomasset/Hans Lucas/picture alliance

Videokonferenzen

„Dieses Meeting hätte eine E-Mail sein können“ war ein beliebter Seufzer in der Arbeitswelt vor 2020. Während der Coronapandemie kam die Erkenntnis: Auch sehr viele Dienstreisen waren relativ einfach zu ersetzen. Durch Videokonferenzen. Doof für Fluggesellschaften, Hotels und Seitensprungambitionen. Praktisch dagegen für Tagesgestaltung, Familienleben und Jogginghosenliebhaber*innen. Mittlerweile wissen wir, wie unsere Kol­le­g*in­nen wohnen, welche Bücher Ex­per­t*in­nen für Fernsehinterviews sorgsam in den Regalen hinter sich drapieren – und wie befreiend es sein kann, den Irrsinn, den manche Menschen so von sich geben, einfach stummschalten zu können.

Klebepfeile in Bahnhöfen

Es heißt ja immer, dass wir in Deutschland alles mit Vorschriften regeln. Dafür herrscht allerdings eine erstaunliche Anarchie im öffentlichen Raum, sofern man zu Fuß unterwegs ist, und das gilt auch für Bahnhöfe. Wobei es doch nur ein paar Metern Klebestreifen bedarf, um Treppen, die zu den Bahnsteigen führen, säuberlich in zwei Richtungen zu teilen, ganz wie man es von Auto- und Wasserstraßen kennt.

Editorial: 5 Jahre Corona

Superspreader. Impfdurchbruch. Impfneid. Herdenimmunität. Geisterspiele. Osterruhe. 1G. 2G. 3G plus. Maskenmuffel. Booster. Helden des Alltags. Covidioten. Na, was geht in Ihnen vor, wenn Sie diese Begriffe lesen? Beklemmung, Abwehr – oder etwa Nostalgie? Der Beginn der Covid-19-Pandemie jährt sich zum fünften Mal, und während die taz-Redaktion normalerweise sehr begeisterungsfähig ist für Sonderseiten zu Jahrestagen aller Art, liefen die ersten Planungsrunden hier eher schleppend an.

Corona? Danke nein, da halten die Leute am Kiosk ganz freiwillig mindestens anderthalb Meter Abstand. Zu nah, zu schmerzhaft, zu kacke war diese Zeit, die Lücken in Familien und Freundeskreise riss, weil jemand starb oder sich abwandte. Die nachweislich bei vielen Spuren in der Psyche hinterließ, insbesondere bei jungen Menschen. Die Krankheitsverläufe hervorbrachte, die den Alltag vieler Menschen auch heute noch massiv einschränken.

Wie also würdigen, dass fünf Jahre vergangen sind – so, dass man es auch lesen will? In Brainstormingrunden kamen wir auf die wildesten Ideen. Wie wär’s denn mit Corona-Sonderseiten, auf denen wir Corona nicht erwähnen? Alles irgendwie auf der Metaebene verhandeln, mit einer Reportage aus einem Ort, an dem es Corona nie gab (dem polynesischen Inselstaat Tuvalu zum Beispiel) oder ein Interview mit Christian Drosten führen, aber übers Fliegenfischen und die Trendfarbe der Saison (ein warmer Braunton).

Wir haben Christian Drosten dann tatsächlich angefragt – nachdem wir eingesehen hatten, dass die Pandemie ausreichend offene Fragen hinterlassen hat, um sich in einem Dossier ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Und so spricht unsere Gesundheitsredakteurin Ma­nue­la Heim mit Deutschlands bekanntestem Virologen über im Labor erzeugte Viren und warum zu seiner Verwunderung auch 2025 noch immer kein Beleg dafür vorliegt, dass die Pandemie einen natürlichen Ursprung hatte.

In einer langen, sehr persönlichen Reportage erzählt unsere Kollegin Shayna Bhalla von ihrer Long-Covid-Erkrankung, die Anfang 2022 begann, als die Menschen um sie herum langsam wieder in Clubs oder auf Reisen gingen. Mit Anfang 20 musste sie lernen, dass Belastung bedeuten kann, sich die Haare zu kämmen. Und dass sie diese Ungewissheit in ihrem Leben so schnell nicht loswird.

Eiken Bruhn beschäftigte sich während der Pandemie viel damit, was dieses Virus gesellschaftlich so anrichtet – und fragt sich heute, ob sie selbst damals zu vorschnell vermeintliche Lösungen herbeischrieb. Ihr Text ist ein Plädoyer, dem Gegenüber zuzuhören – und wirklich verstehen zu wollen, warum jemand denkt, wie er denkt.

Unsere Kolumne „Starke Gefühle“ übernehmen diese Woche sechs Schü­ler­prak­ti­kan­t:in­nen. Sie berichten von techniküberforderten Leh­re­r:in­nen, von ausgefallen Skifreizeiten, von Einsamkeit, aber auch von Zusammenhalt trotz Lockdowns. Gleich daneben steht die Antwort auf die Kinderfrage einer Zehnjährigen, ob Corona denn jetzt schlimmer als die Pest war.

Und schließlich erklärt Lukas Heinser, was alles Schönes von der Pandemie geblieben ist. Vom In-die-Armbeuge-Niesen über Desinfektionsspender-Mahnmale bis hin zu „Stand jetzt“ – der Formulierung, die jede mittel- bis langfristige Planung infrage stellt, die uns zeigt: Alles ist Gegenwart, alles kann sich sofort und vollständig verändern.

Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre, und: Bleiben Sie gesund! ­Leonie ­Gubela

Zu Coronazeiten sollte das vor allem Infektionen verhindern, aber es sorgte – gerade zu Stoßzeiten, als an Bahnhöfen dann eben doch mal ein bisschen was los war – auch für einen geradezu geordneten Ablauf, ohne dass Menschen ineinander­liefen wie die Spieler beim American Football. Die Klebestreifen sind oft verblichen, aber immer noch da, manche Menschen halten sich unbewusst weiterhin an sie. Und dieses Konzept würde ja überall helfen, in Fußgänger­zonen oder auf Bürgersteigen, wo man immer noch allzu oft in einen kleinen Tanz verfällt, wenn einem jemand entgegenkommt und beide mehrfach zur selben Seite auszuweichen versuchen.

Kontaktlos zahlen

Jahrzehntelang lautete das Motto in Deutschland: „Nur Bares ist Wahres“. Nun baten Schilder an hiesigen Supermarktkassen darum, statt mit virenbefallenem Bargeld möglichst kontaktlos zu bezahlen. Und wir übersprangen von einem Tag auf den anderen gleich mehrere Evolutionsstufen und wechselten direkt zum Bezahlen per Smartphone. Also: zumindest viele von uns. Oder manche. Egal! Die Zukunft hatte begonnen, als Nächstes sprossen Self-Scan-Kassen aus dem Boden und inzwischen gibt es gar Cafés, die kein Bargeld mehr akzeptieren.

Desinfektionsspender

Eine der ersten Lektionen der Pandemie war die Erkenntnis, dass wir uns alle immer viel zu kurz die Hände gewaschen hatten. (Wer zuvor schon mal eine öffentliche Toilette besucht hatte, wusste bereits: Ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung wäscht seine Hände gar nicht.) Jetzt sollte man zwei Mal „Happy Birthday“ oder wenigstens den Refrain von „Mr. Brightside“ von den Killers singen und ein seltsames Fingerballett aufführen, um die Viren (und anderen Dreck) wirklich loszuwerden.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und wo gerade kein Waschbecken war, standen nun überall diese Spender mit Desinfek­­ionsmitteln herum. Manche davon funktionierten sogar mit Sensoren, sodass man seine Hände nur nähern musste, und schon wurden diese in Eau de Zahnarztpraxis gebadet. Die Welt war ein einziger Krankenhausflur geworden, und zum ersten Mal dachten die Leute ernsthaft darüber nach, was sie auf dem Weg zur Arbeit alles angefasst hatten und was das für die Computertastatur und die Snacks am Schreibtisch bedeutet. Inzwischen wurden einige der Desinfektionsspender wieder abgebaut, viele weitere werden nicht mehr befüllt, und man braucht keine Studie, um zu ahnen: Diesen Rückschritt könnten wir mit einem höheren Krankenstand bezahlen.

Krank sein

Wir lernten, dass die Innenseite des Ellenbogens „Armbeuge“ heißt und man dort hineinniesen kann oder sogar sollte (statt in die Hand). Wir gewöhnten uns an die Masken in der Öffentlichkeit (oder, zur besseren Unterscheidung von Karneval: Mund-Nasen-Bedeckungen) – ein Hoch auf jene, die sie auch heute noch aufsetzen, wenn sie sich nicht ganz fit fühlen! Und auf die, die auch heute noch darauf verzichten, die ganze Abteilung anzustecken. Denn auch das hatten wir gelernt: Menschen mit leichten Erkältungssymptomen sollten bitte nicht mehr zur Arbeit kommen, im Sinne aller. Doch kaum hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, denkt der Chef der Allianz laut darüber nach, kranke Ar­beit­neh­me­r*in­nen mit der Androhung finanzieller Einbußen wieder an den Arbeitsplatz zu scheuchen.

Homeoffice

Als freier Journalist ist mein Weg zum Arbeitsplatz seit jeher meist der vom Bett zum Schreibtisch. Viele andere mussten sich zu Coronazeiten erst mal daran gewöhnen, aus der eigenen Wohnung ihrer Arbeit nachzugehen. Aber was technisch plötzlich alles möglich war! Unternehmen besorgten in kürzester Zeit Hard- und Software, um ihre Angestellten Homeoffice-tauglich zu machen. Die wiederum merkten, dass es geilere Sachen gibt, als zu pendeln. Manche stellten gar fest, dass es sich förderlich auf die Konzentration auswirkt, wenn man nicht acht Stunden auf einen Bildschirm starrt, sondern zum Ausgleich zwischendurch mal die Wäsche aufhängt oder die Spülmaschine ausräumt. Und als die Kinder zumindest hin und wieder in die Kita oder Schule gingen, war es regelrecht entspannt im Homeoffice.

Aber, ach – die ganzen Bürogebäude sind ja gebaut beziehungsweise gemietet, und viele Führungskräfte plagten Phantomschmerzen, weil sie ihre Untergebenen nicht mehr sahen oder gar mit ihnen in Meetings sitzen konnten. Viel von der Freiheit des Homeoffice wurde daher schnell wieder einkassiert. Ganz weggehen wird es aber nicht mehr, dafür ist es einfach zu gemütlich.

„Stand jetzt“

Zu den zweifelhaften Qualitäten der deutschen Sprache gehört es, wärmste Emotionen wie eine gesetzliche Verordnung zu benennen, ein Beispiel: „Zusammengehörigkeitsgefühl“. Aber in seltenen Momenten, wenn beamtendeutsche Präzision und protestantische Gottergebenheit aufeinandertreffen, können Dinge von einer ganz eigenen Schönheit und Poesie entstehen – und die Formulierung „Stand jetzt“ gehört definitiv dazu. Zwei Worte, die eine ganze Geisteshaltung verkörpern und die durch Corona noch geläufiger geworden sind: „Stand jetzt treffen wir uns nächste Woche, aber wer weiß, ob es dann nicht wieder eine Ausgangssperre gibt.“ „Stand jetzt brauchen Zuschauer für das Open-Air-Konzert einen Schnelltest.“ Der Satz stellt jede mittel- bis langfristige Planung in Frage; es ist alles Gegen­wart, alles kann sich sofort komplett verändern. Ob weltpolitisch – Kriege, Terror, Pandemien – oder im Privaten, immer kann etwas dazwischenkommen und die Einladung zu einer Geburtstagsfeier durchkreuzen, sei es ein Trauerfall, eine Erkältung oder einfach die völlige Abwesenheit von Bock.

Taylor Swift

Klar, die Sängerin war schon vor der Pandemie ein internationaler Popstar. Aber mit ihren Aufforderungen, zu Hause zu bleiben, und der frühen, klaren Absage ihrer Welttournee übernahm sie gesellschaftliche Verantwortung – und spielte dann in den ersten drei Monaten des Lockdowns einfach mal ein Meisterwerk ein: „Folklore“ wurde zum Soundtrack des ersten Coronasommers und überzeugte selbst jene, die Swifts Musik bisher kritisch gegenübergestanden hatten. Mit „Evermore“ kam ein paar Monate später noch so ein großer Wurf. Und so war die Pandemie der Beginn von Taylor Swifts Wandel von einem Popstar zu dem größten Popstar unserer Gegenwart.

Selfcare auf Social Media

Sauerteig, Malbücher, Stricken, Linolschnitt – plötzlich brauchten wir alle ein indoorfähiges Hobby. Und noch dazu Schaumbäder, Gesichtsmasken sowie wahlweise Detox oder Daytime Drinking. Für einen kurzen Moment war es nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern sogar geboten, an sich selbst zu denken: Nur nicht verrückt werden bei all den Nachrichten, Veränderungen und Unsicherheiten! Soziale Medien wurden zu dem Ort, an dem wir zusammenkamen; gemeinsam allein. Aber auf Social Media konnte man auch all den Impfgegnern begegnen, die sich auf zweifelhaften Kanälen „fortgebildet“ hatten. Also jene Orte, an denen Elon Musk und Mark Zuckerberg heute Falschinformationen und Hetze nicht nur erlauben, sondern sogar vorantreiben. Also aus Trotz wieder mehr Sauerteig posten!

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3 Kommentare

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  • "Die Coronazeit war bitter, aber sie hat auch gesellschaftlichen Fortschritt gebracht."



    und einen Teil der Bevölkerung, der sich vom Staat entfremdet hat. Es ist die Frage, was mehr wiegt...

  • Klingt ja fast schon romantisch. Und dann gab es noch die Millionen Kollateralschäden über die selten jemand spricht. Geschichte wird eben von Gewinnern geschrieben, die nebenbei noch auf dem Aktienmarkt und in Krypto ihr Vermögen verdoppelt und vervielfacht haben und sich womöglich noch eine Pandemie wünschen.

  • Genau, die ganze Welt ein Krankenhausflur, wer wünscht sich das nicht.