Deal zwischen Hamas und Israel: Das Schweigen der Waffen
Erste Geiseln werden freigelassen, während Israel palästinensische Gefangene entlässt. Politische Spannungen in Netanjahus Regierung spitzen sich zu.
Bereits vor der Verkündung der Waffenruhe durch Israel waren in den sozialen Medien zahlreiche Videos von feiernden Palästinensern zu sehen, darunter eine Parade von Fahrzeugen und Mitarbeitern des Zivilschutzes. Es folgte ein makaberes Ringen beider Seiten um die letzten Minuten vor der Waffenruhe. Ein Hamas-naher X-Kanal bezeichnete die Waffenruhe bereits um 08.43 Uhr als in Kraft und veröffentlichte ein nicht verifiziertes Video von Menschen auf dem Weg von Gaza-Stadt in Richtung der bisher von der Armee abgeriegelten Gebiete im Norden. Andere Bilder zeigten eine Parade von vermummten und mit Maschinengewehren bewaffneten militanten Palästinensern auf Pick-ups in einer Menschenmenge.
Israels Armee warnte die Bevölkerung hingegen in ihrem arabischsprachigen Telegram-Kanal, sich nicht vor dem Eintreten der Waffenruhe zuvor gesperrten Gebieten zu nähern. Das Büro von Regierungschef Benjamin Netanjahu verschob den Beginn der Waffenruhe am Morgen kurzfristig um fast drei Stunden und warf der Hamas vor, nicht rechtzeitig die Namen der am Nachmittag freizulassenden Geiseln übermittelt zu haben. Die Gruppe machte „technische Probleme“ verantwortlich, versicherte aber, zu dem am Mittwoch in Doha verkündeten Abkommen zu stehen. Alleine in diesen Stunden tötete die israelische Armee laut palästinensischen Rettungskräften 13 Menschen bei Angriffen an mehreren Orten des Küstenstreifens.
Auf dem Tel Aviver Geiselplatz verdrängen all diese Entwicklungen am Sonntag jede Spur von Erleichterung. „Mit jedem Funken Hoffnung kommt die Angst“, sagt Shivon Lev, eine ehemalige Bewohnerin der am 7. Oktober überfallenen Kibbutzsiedlung Nahal Oz. Es sei unbeschreiblich, was die Angehörigen der Geiseln bis zum letzten Augenblick durchmachen müssten. Sie deutet auf ein Portrait von Emily Damari an einer Zeltwand. Die 28-Jährige mit schwarzen Locken soll am Nachmittag zusammen mit zwei anderen jungen Frauen freikommen. Damaris Mutter Mandy wisse nicht, in welchem Zustand ihre Tochter zurückkomme, wusste über weite Strecken nicht einmal, ob sie noch am Leben war. „Hoffnung ist grausam“, sagt Lev. „Sich auf sie einzulassen, bedeutet jedes Mal, sich wieder zu öffnen und zu riskieren, daran zu zerbrechen“, sagt Lev.
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Nach 470 Tagen kommen erste Geiseln frei
Auf dem Platz haben zahlreiche Installationen im vergangenen Jahr diese Ungewissheit festgehalten: etwa die lange Tafel, gedeckt mit einem Teller für jede der noch immer knapp einhundert in Gaza festgehaltenen Geiseln. Mindestens ein Drittel soll nicht mehr am Leben sein. „Wir werden die Zweifel wegdrücken und hoffen, dass die Waffenruhe nicht zerbricht, bevor alle wieder frei sind“, sagt Lev.
Neben Damari hat der bewaffnete Arm der Hamas mitgeteilt, die 24-jährige Romi Gonen und die 31-jährige Doron Steinbrecher freizulassen. Damari und Steinbrecher waren aus dem Kibbutz Kfar Aza entführt worden, Gonen von dem Nova-Festival. Videos vom 7. Oktober zeigen, dass Damari bei ihrer Entführung in die Hand und ins Bein geschossen wurde. Lediglich von Steinbrecher tauchte im Januar vor einem Jahr ein Video auf, auf dem sie scheinbar in einem Tunnel zu sehen war und abgemagert aussah. Um kurz nach 17 Uhr Ortszeit meldete die israelische Armee die Übergabe der drei Frauen an das Rote Kreuz. Sie sollten nach ihrer Freilassung ins Tel Haschomer-Krankenhaus nahe Tel Aviv gebracht werden.
Während der ersten von drei Phasen der Waffenruhe sollen über 42 Tage nach und nach insgesamt 33 Geiseln zurückkehren, vor allem Frauen, Kinder, Verletzte und Männer über 50. Im Gegenzug würden rund 1.700 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freikommen, die ersten 95 noch am Sonntagabend. Die israelische Armee muss sich in eine Pufferzone entlang der Grenze zu Israel zurückziehen. Nach 16 Tagen sollen die Verhandlungen über die zweite Phase der Waffenruhe starten, während der die übrigen noch lebenden Geiseln freikommen könnten.
Am Sonntag begann die israelische Armee Medienberichten zufolge, Truppen im Gazastreifen abzuziehen, etwa aus Rafah und dem Philadelphi-Korridor entlang der ägyptischen Grenze. Das Welternährungsprogramm meldete, dass Lastwagen über die israelischen Grenzübergänge Kerem Schalom und Zikim mit dem Transport von Lebensmittelhilfe in den Küstenstreifen begonnen hätten.
„Eine Kapitulation vor der Hamas“
In einer Woche sollen erneut vier Geiseln im Austausch für weitere palästinensische Gefangene freikommen. Zusammen mit einem weiteren Austausch in 14 Tagen folgt ein weiterer Rückzug der israelischen Armee. An Tag 22 sollen Hilfslieferungen wieder über die Salah al-Din Straße erfolgen, die den Süden mit dem Norden des Gazastreifens verbindet.
Israels rechtsextremistischer Polizeiminister Itamar Ben Gvir erklärte als Reaktion auf den Beginn der Waffenruhe den Austritt seiner national-religiösen Partei Jüdische Kraft aus der Regierung. Er nannte das Abkommen eine „Kapitulation vor der Hamas“. Netanjahus Koalition verfügt weiterhin über eine knappe Mehrheit.
Finanzminister Bezalel Smotrich, ebenfalls ein rechts-nationalistischer Siedler, hat jedoch bereits angedroht, Ben Gvir zu folgen, wenn Israel den Krieg nicht nach der ersten Phase der Waffenruhe fortsetze. Die Oppositionsführer Benny Gantz und Jair Lapid haben angeboten, Netanjahus Regierung im Falle eines Austritts der rechts-religiösen Parteien zu stützen, wenn im Gegenzug der Waffenstillstand eingehalten werde.
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