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„Kinder werden manipuliert“

Der Historiker Alexander Rothenberg vergleicht Elitesklaverei mit Profifußball. In der taz erklärt er, was Sport mit Körpern und Träumen von Kindern macht. Und was besser werden muss

Traumfabrik Spitzensport: Turnerin beim Training Foto: imago

Interview Alina Schwermer

taz: Herr Rothenberg, fast täglich erschüttern neue Gewaltvorwürfe den deutschen Turnsport. Sie selbst haben zu Parallelen zwischen Elitesklaverei und modernem Leistungssport promoviert. Es gibt ein Zitat von Turnerin Lara Hinsberger: „In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt, und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor.“ Was haben Sie dabei gedacht?

Alexander Rothenberg: Erst mal muss ich sagen, ich kriege Gänsehaut bei so einem Zitat. Ich finde sämtliche Zitate, die veröffentlicht wurden, extrem reflektiert und hege große Bewunderung für den Mut, das auszusprechen. Wenn man sich als Ding empfindet, dann sind wir wirklich von Sklaverei nicht weit entfernt.

taz: Was ist denn überhaupt Elitesklaverei?

Rothenberg: Kinder wurden in vielen Gesellschaften geraubt, verkauft, isoliert, lange ausgebildet und dann in hohen Posi­tio­nen eingesetzt. Etwa im Militär, als Palasteunuchen oder als Konkubine, die irgendwann die Sultansmutter werden konnte. Und genau das ist der Vergleich, den man ziehen kann. Wir können nicht klar definieren, ob ein Mensch versklavt oder frei ist. Deshalb geht es heute im Bonn Center for ­Dependency and ­Slavery ­Studies (BCDSS) viel stärker um Abhängigkeiten. Ist jemand abhängig und in welchem Grad? Und dann wird es beim Sport total spannend. Per Mertesacker hat zu seinem Abschiedsspiel gesagt, er werde mit über 30 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben frei sein.

taz: Wieso? Leistungssport ist doch freiwillig.

Rothenberg: In Akademien und Stützpunkten gibt es ein systemisches Machtgefälle, das auch massive Auswirkungen auf den Körper hat. Da sind Gewalt und sexualisierter Missbrauch gang und gäbe. Es gibt ganz heftige Interviews, wo zum Beispiel Ex-Fußballer Max ­Noble von Grooming spricht, also eine Parallele zieht zum Anbahnen von Kindesmissbrauch. Er sagte: „Man hat uns einen Traum versprochen, damit hält man uns bei der Stange, bis man den platzen lässt.“ Je länger man einen bestimmten Pfad beschreitet, desto schwieriger ist es, alles aufzugeben. Vielleicht hat man mit 16 Jahren keinen Spaß mehr, aber denkt sich: Ich habe zehn Jahre investiert, das kann ich jetzt nicht einfach aufgeben. Zumal man im Umfeld sehr viel positive Verstärkung bekommt. Man möchte dann auch die Eltern nicht enttäuschen. Es gibt ganz wenige Spitzensportler:innen, die freiwillig aussteigen.

taz: Funktioniert der Sklavereivergleich so pauschal? Im Turnen war kaum jemand von den Vorwürfen überrascht. Wenn sich aber ein Topskater eigenständig eine Marke aufbaut und nebenher an Olympia teilnimmt, ist das ein Unterschied.

Rothenberg: Total. In meiner Arbeit habe ich mich vor allem auf die Sportarten gestützt, wo richtig Geld drinsteckt, die großen US-Sportarten und ­Fußball. Da gibt es oft große Probleme. Dann geht es aber auch darum, welcher Sport besonders körperintensiv ist. Und dann gibt es noch Sportarten, die man nur mit viel Geld machen kann, Motorsport oder Segeln zum Beispiel, wo es noch mal um andere Abhängigkeiten geht, weil Menschen sich vielleicht verschulden. Es ist also nicht so einfach.

taz: Ist Profisport eine schlechte Idee?

Rothenberg: Profisport kann schon auch sehr viel geben. Ich glaube, dass wir einfach zu früh zu großen Einfluss auf Kinder nehmen. Da geht es um Kon­trolle von Körpern und darum, Kinder zu manipulieren, damit sie dabeibleiben. Das betrifft nicht nur den Profisport, sondern auch die Popkultur, zum Beispiel Britney Spears, auch in der klassischen Musik ist es total verbreitet. Der Gedanke, Kinder systematisch für Höchstleistung auszubilden, um aus ihnen Kapital zu generieren, ist das Hauptproblem.

taz: In Grundzügen war der Missbrauch im Turnen längst bekannt. Warum lässt die Gesellschaft so ein System zu?

Rothenberg: Da wird ein Traum verkauft, der ist einfach zu groß. Das ist ein American Dream 2.0, wo je­de:r entdeckt werden und damit aus dem Alltag entfliehen kann. Das ist ganz tief im Kapitalismus verwurzelt. Dieser Traum wird gerade im Spitzensport auch von Trai­ne­r:in­nen ganz stark verkauft: Ich weiß, es ist heute hart, aber wenn du das geschafft hast, dann kommst du an. Da findet eine Verbrüderung oder Verschwesterung statt.

taz: In den letzten Jahren haben weltweit ungewöhnlich viele Ath­let:in­nen Missbrauch und Gewalt im Sport öffentlich gemacht und mehr Mitsprache gefordert. Ändert sich gerade wirklich was?

Rothenberg: Ich habe den Missbrauchsskandal um Larry Nassar als einen Startschuss wahrgenommen, durch den diese Themen global stärker in den Fokus gerückt sind. Viele Sportverbände haben mit Schutzkonzepten, unabhängigen Meldesystemen und Kontrollmechanismen reagiert. Gleichzeitig treten Ath­le­t:in­nen mehr und mehr organisiert auf und fordern ihre Rechte ein. Trotz dieser Fortschritte bleibt sehr viel zu tun, besonders in der Struktur. Doch die zunehmende Offenheit und die Solidarität sind ein toller Anfang.

taz: Als in Chemnitz das Ermittlungsverfahren gegen die Turntrainerin Gabriele Frehse eingestellt wurde, hieß es in der Begründung: „Seelischer Druck ist im Profisport bedauerlich, aber normal.“ Viele Eltern und Turnerinnen stellten sich hinter Frehse. Oft gibt es einen Aufschrei, wenn vermeintlich Leistung abgeschafft wird, sei es im Kinderfußball oder bei den Bundesjugendspielen. Ist es am Ende ein System, was ganz viele so wollen?

Rothenberg: Die Struktur ist da, und sie führt dazu, dass wir denken: Das muss so funktionieren. Ich würde nicht behaupten, dass wir alle es so wollen. Aber natürlich erhalten wir es alle am Leben, indem wir Leistungssport konsumieren und indem wir unsere Kinder immer wieder mit diesen Idolen konfrontieren. Und mit Druck lassen sich Kinder einfach extrem gut formen. Nicht umsonst hat man in der Elitesklaverei gerade Kinder geraubt, weil man ihnen von klein auf eine Ideologie einbläuen konnte. Es gab übrigens auch damals Fälle, wo Eltern ihr Kind freiwillig gegeben haben, damit es das Kind mal besser hat.

taz: Trotzdem hat Leistungssport auch eine sehr selbst­ermächtigende Komponente. Letztens gab es bei Olympia das berühmte Bild, als mit Rebeca Andrade, Simone Biles und Jordan Chiles erstmals drei schwarze Turnerinnen auf dem Podium standen und einander dafür gefeiert haben. Gerade marginalisierte Gruppen erringen hier wichtige Siege, etwa die Williams-Schwestern im Tennis oder Imane Khelif im Boxen.

Rothenberg: Ja, es ist ambivalent, Simone Biles ist dafür ja das beste Beispiel. Das macht das Ganze auch so schwierig. Sonst könnte man ja einfach sagen: Okay, wir verbrennen da Körper, wir müssen jetzt echt damit aufhören. Es gibt natürlich gute Gründe, Profisport zu mögen. Wenn jemand es aus der größten Armut heraus in diese Sphären schafft, ist das erst mal total selbstermächtigend. Die Person gewinnt auch Handlungskompetenz und agency – so wie in den genannten Fällen von Elitesklaverei. Aber was immer vergessen wird: Wie viele fallen denn runter? Und diese Nichtselbstermächtigung, davon erzählen wir selten.

taz: Geht Leistungssport mit Spaß zusammen?

Rothenberg: Es ist spannend, darüber nachzudenken. Es gibt erst mal einen ganzen Haufen Reformen, die von klugen Köpfen vorgeschlagen wurden. Und dann muss meines Erachtens noch weitergedacht werden: Was machen wir in unserer Gesellschaft mit Kindern? Mein persönlicher Wunsch wäre, dass man die ganzen Akademien und Stützpunkte in der derzeitigen Form abschafft, vielleicht auch nationale Meisterschaften abschafft. Und mit der Volljährigkeit kann man selbstbestimmt mit Spitzensport starten. Aber mir ist bewusst, dass das nicht so einfach geht.

taz: Damit würden Sie eine Menge Sportfans und Sport­ler:in­nen gegen sich aufbringen. Es wäre das Ende des Hochleistungssports.

Rothenberg: Im Gespräch mit Fußballfans sagen schon viele: Ich gehe jetzt lieber wieder auf den Kreisligaplatz, der ganze Kommerz nervt mich. Da könnte man durchaus argumentieren: Was dich wirklich reizt, ist das Spiel.

Foto: Gregor Hübl/Uni Bonn
Alexander Rothenberg

hat an der Universität Bonn am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS) zum Thema Elitesklaverei und Profifußball promoviert. Das Buch wurde bei De Gruyter veröffentlicht und ist auch im Open Access erhältlich. Seit August 2024 arbeitet er zu nachhaltiger Ernährung am Zentrum für Entwicklungs­forschung in Bonn.

taz: Sie haben mit vielen Ex-Sportler:innen gesprochen, vor allem mit Fußballern. Wie blicken die auf das Thema?

Rothenberg: In aller Regel waren die Menschen sicher, dass sie bewusst ihren Traum gelebt haben. Sie waren sehr dankbar für alles, was Fußball, also Profisport, ihnen gegeben hat. Es gibt Momente der Transzendenz im Sport, die man wahrscheinlich nirgendwo anders bekommt. Oft war aber auch unklar: War das wirklich Dankbarkeit gegenüber dem Profisport oder gegenüber dem Spiel? Ganz häufig ist im Laufe des Gesprächs eine Reflexion passiert: Klar, so eine richtige Jugend hatte ich eigentlich nicht. Manchen fehlte auch während der Karriere ein Freundeskreis, weil sie das Gefühl hatten, sie könnten niemandem mehr vertrauen. Auch erlittene Verletzungen, körperlich wie mental, waren Thema. Aber dann fiel in der Regel auch immer wieder der Satz: Na ja, für diesen Traum Profifußball hat sich das schon gelohnt. Das war eine total ambivalente Haltung. Ich finde, am einleuchtendsten ist die Metapher des goldenen Käfigs.

taz: Würde es dem Sportsystem helfen, wenn genau diese Debatte öffentlich stattfände?

Rothenberg: Klar, so was hilft immer. Die Frage ist eher: Schaffen wir es, denen Gehör zu verschaffen, die sich äußern wollen?

taz: Sie haben eben Britney Spears angesprochen. In der Popindustrie gibt es ganz zaghaft eine Systemdebatte über Kinder. Was hält viele Ex-Sportler:innen ab?

Rothenberg: Ich glaube, die Stimmen sind einfach leiser. Gesellschaftlich oder medial interessieren wir uns nicht genug für Ex-Sportler:innen im Vergleich zu einem Popstar. Die sind einfach verschwunden, außer den wenigen, die in Fußball-Talkrunden sitzen oder im „Dschungelcamp“ landen. Die haben diese Stimme nicht. Und im besten Fall müssten wir sie ihnen geben.

Am 29. Januar liest Alexander Rothenberg im Theater die wohngemeinschaft in Köln aus seiner Dissertation, begleitet von einer Podiums­diskussion. Tickets gibt es für 14 Euro.

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