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Spaghetti-Fleisch und Cola vom Wochenmarkt

Integrationskurse, deren Teilnehmende nicht nur Deutsch, sondern auch Lesen und Schreiben lernen sollen, sind eine besondere Herausforderung. Der Germanist Ousmane Dupuy vom Paritätischen Bildungswerk Bremen nimmt sie an. Er stammt selbst aus dem Senegal und kennt die Erfahrung, neu im Land zu sein

Sollen die deutsche Sprache sowie Lesen und Schreiben gleichzeitig lernen: Teilnehmerinnen eines Integrationskurses mit Alphabetisierung, hier in Hamburg Foto: Christian Charisius/dpa

Aus Bremen Mariya Abramova

Spaghetti-Fleisch – so versucht Ousmane Dupuy seiner Klasse zu erklären, was Hackfleisch eigentlich ist. Die Blicke reichen von Verwirrung bis Unverständnis. An der Tafel steht das Thema der Unterrichtsstunde: „Preise und Mengenangaben“. Die sechs Männer und drei Frauen, vor denen er im Klassenraum des Paritätischen Bildungswerks Bremen steht, kommen unter anderem aus Syrien. Viele hatten wenig oder gar keine Schulbildung. Deswegen fangen sie ganz von vorn an in diesem sogenannten Integrationskurs mit Alphabetisierung.

Zuerst bringt Dupuy ihnen Schreiben und Lesen bei – und erst dann kommt das Sprechen und Verstehen, nebenbei vermittelt er auch alles von Sprichwörtern bis zu Traditionen, und was die deutsche Kultur sonst so ausmacht.

Der Weg zur Integration ist vorgegeben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). In den neunhundert Unterrichtsstunden sollen die Teilnehmenden mindestens das Sprachniveau A2 erreichen. Noch besser wäre das Niveau B1, welches in Deutschland aktuell für Ausbildung und Berufseinstieg erforderlich ist. Das schaffen allerdings nur wenige.

Die Alphabetisierungskurse sind laut Bamf ausgelegt für Menschen, die zum ersten Mal lesen und schreiben lernen oder beides nicht in ausreichendem Maße beherrschen. Dabei sollen sie gleichzeitig auch besser Deutsch sprechen und verstehen lernen. Das ist eine besondere Herausforderung für Ousmane Dupuy. „Die Zeit reicht nie aus“, sagt er. Ihm wäre es lieber, wenn der Inhalt weniger und die Zeit mehr würde.

Pro Unterrichtseinheit ist ein Thema vorgesehen. Aber schon allein das Kontrollieren der Hausaufgaben dauert die Hälfte der Zeit. Dupuy findet es wichtig, in die Tiefe zu gehen und so lange dranzubleiben, bis es wirklich alle verstanden haben, statt einfach ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kursteilnehmer den Inhalt abzuhaken.

Ousmane Dupuy spricht sehr langsam und deutlich, fast schon in Zeitlupe. Viele seiner Wörter begleitet er mit einer Geste. Mit seiner Stimme könnte er auch Entspannungskurse leiten, so beruhigend und ausgeglichen klingt sie. Nichts bringt ihn aus der Fassung. Auch wenn ein Kursteilnehmer den Satz „Wann kaufst du ein?“mehrmals hintereinander falsch ausspricht, bleibt Dupuy gelassen. Er will, dass die Aussprache sitzt und lässt eine Phrase so lange aufsagen, bis sie richtig klingt.

Den Unterschied in der Aussprache zwischen vierzehn und vierzig, zwischen fünfzehn und fünfzig erklärt er so lange, bis wirklich alle nicken und zeigen, dass sie es verstanden haben. Jedes Wort, das für leere, fragende Blicke sorgt, schreibt er an die Tafel. Die Buchstabierübung des Wortes „Packung“ scheitert, aber Dupuy weiß, was er tut.

Im Senegal hat er Germanistik studiert und dann an einem Gymnasium unterrichtet. Danach kam er über ein Stipendium nach Deutschland, um zu promovieren – und blieb. „An Deutschland mag ich die Ordentlichkeit und Sauberkeit und dass sich die meisten an die Gesetzte halten“, sagt der 40-Jährige. „In meinem Heimatland ist das nicht so.“ Als Deutscher sieht sich Dupuy nach zehn Jahren hier noch lange nicht. Er kennt das Gefühl, neu im Land zu sein und ist überzeugt, gerade dadurch die Besonderheiten Deutschlands an seine Schülerinnen und Schüler weitergeben zu können.

„Mir ist wichtig, alles irgendwie mit dem Alltag zu verknüpfen“, sagt Ousmane Dupuy. Er bringt alles ein, was geht, auch außerhalb des Lehrplans. In dieser Stunde erklärt er, was der Euro ist, wann er eingeführt wurde, welche Farbe der Urin haben sollte und wie viele Liter Wasser jeder und jede am Tag trinken sollte.

Den ganzen Unterricht lang stehen die Fenster auf kipp. Das Grau draußen und das weiß-blaue Licht lassen den Raum noch kälter wirken. Die meisten sitzen in ihrer Winterjacke da, so, als müssten sie gleich los. An den Wänden hängen selbstgeschriebene Plakate wie man Modalverben dekliniert, in wackeliger Schrift. Und eine Deutschlandkarte.

Die Regel, ausschließlich Deutsch zu sprechen, gilt für alle. Das macht Dupuy auch. Er vermittelt Deutsch auf Deutsch. Die Verständigung läuft über große Augen, „Ahs!“, „Ohs“, leere Blicke, hochgezogene Augenbrauen. Im äußersten Fall kommt eine Ja-Nein-Frage.

Ousmane Dupuy kennt das Gefühl, neu im Land zu sein. Als Deutscher sieht er sich nach zehn Jahren noch lange nicht

Die Teilnehmer sollen auch Deutsch sprechen. Zwei Frauen unterhalten sich immer wieder auf Arabisch. Dupuy zögert, ihn stört es, aber er lässt sich nichts anmerken und macht weiter mit seinem Unterricht. Nur manche Wörter lernt er in der Muttersprache seiner Kursteilnehmer. Das Wort „Seele“ lässt sich seiner Meinung nach sehr schwer erklären, deswegen hat er es auf Arabisch gelernt.

Zum Ende der Stunde lässt er eine Verkaufssituation nachspielen. Zwei Freiwillige melden sich. Sie sollen sich vorstellen, sie seien auf einem Wochenmarkt. „Ich habe Eier, Obst und Gemüse“, sagt die Person, die den Verkäufer spielt. „Ich will Cola“, sagt die vermeidliche Käuferin. „Das ist hier kein Supermarkt“, erwidert der Verkäufer. Alle lachen.

„Eigentlich hätten wir heute mehr schaffen müssen“, sagt Ousmane Dupuy, schaut bedrückt nach unten. Als Hausaufgabe gibt er seinen Schülerinnen und Schülern mit, auf einen Wochenmarkt in Bremen zu gehen und ihm in der nächsten Woche davon zu erzählen. Das sollten sie nach dieser Stunde können.

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