: „Fließende Übergänge sind typisch für Roma-Musik“
Dokument der wechselseitigen Befruchtung: Das Atos-Trio, ein klassisch ausgebildeter Roma-Geiger und die traditionelle Gipsy Band konzertieren gemeinsam in der Elbphilharmonie
Interview Petra Schellen
taz: Herr Hoppe, inwiefern war und ist Sinti- und Roma-Musik „verfemt“?
Thomas Hoppe: Insofern, als diese beiden Gruppen nicht nur schwer unter dem Holocaust gelitten haben, sondern auch bis heute dem Antiziganismus der europäischen Mehrheitsgesellschaften begegnen. Bei ihrer Ankunft in Europa vor einigen Hundert Jahren galten sie gar als „Ägypter“ – daher übrigens das Wort Gipsy. Mit unserem Konzert in der Elbphilharmonie – der ersten Zusammenarbeit unseres klassischen Atos-Trios mit Roma-Musikern – wollen wir helfen, Vorurteile abzubauen und die wechselseitige Befruchtung von Roma- und Sinti-Musik und der europäischen „Klassik“ aufzeigen. Zum Hintergrund: Ich selbst bin mit Sinti aufgewachsen, habe mit zwölf von meinen Sinti-Freunden in Bad Kreuznach ihre Sprache Romanes gelernt und kenne viele der Musiker. Meine Frau ist Sintezza, und wir erziehen unser Kinder im Kulturkreis der Sinti.
taz: Wie verschieden sind Sinti und Roma?
Hoppe: Es sind zwei ganz unterschiedliche Gruppen. Roma leben im osteuropäischen Kulturkreis und den USA, die weit kleinere Gruppe der Sinti in Westeuropa. Man muss sich das wie einen Baum mit denselben Wurzeln vorstellen, die in Indien stehen und dessen Äste seit einigen Hundert Jahren in zwei verschiedene Richtungen wachsen. Das betrifft auch die Sprache. Beide Gruppen sprechen inzwischen so verschiedene Varianten des Romanes, dass sie einander nicht mehr verstehen.
taz: Wie unterscheidet sich die Musik der beiden Gruppen?
Hoppe: Unter den Roma, deren Musik wir jetzt präsentieren, gibt es zum Beispiel die Tradition der großen Geigenvirtuosen aus Ungarn und die vielen Kapellen, die noch heute in Restaurants spielen. In der Elbphilharmonie wird unter anderem der Geiger Ernö Kalai mit seiner Gipsy Band aus Budapest mit traditionellen Melodien zu hören sein. Außerdem kommt aus Madrid der Geiger Gábor Szabó, auch er ungarischer Rom, aber klassisch ausgebildet. Er wird erst, begleitet von mir am Klavier, klassische Stücke spielen und dann, gemeinsam mit der Gipsy Band, Traditionelles. Solche fließenden Übergänge zwischen den Gattungen und Stilen sind typisch für die Roma-Musik.
taz: Und wie musizieren die Sinti?
Hoppe: Sinti leben seit rund 700 Jahren in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und sind sich dessen sehr bewusst. Sie haben sich hier beheimatet. Diese Ambivalenz ist tief verwurzelt: Der Holocaust ist zwar allgegenwärtig, auch heute noch, in der dritten Generation, dieser Schock vererbt sich gewissermaßen. Aber man liebt Deutschland. Viele Sinti mögen deutsche Traditionen – bayerische Marschmusik oder Gamsbart-Hüte. Ich kenne auch kaum Sinti, die nicht bewandert wären in den deutschen Schlagern der 1950er-, 1960er-Jahre.
taz: Aber sie haben doch eigene Musik. Wie verträgt sich das?
Hoppe: Ohne Probleme. Der 1953 verstorbene Jazzgitarrist Django Reinhardt bleibt natürlich der wichtigste Sinti-Musiker. Aber abgesehen davon hört man auf der gleichen Sinti-Feier eine französische Valse, Lieder von Caterina Valente und Sinti-Jazz.
taz: Und inwiefern hat die jetzt im Konzert präsentierte Roma-Musik die europäische Klassik geprägt?
Hoppe: Da wäre zum Beispiel der Barock-Komponist Jean-Philippe Rameau, der 1727 das Klavierstück „L’Egyptienne“ („Die Ägypterin“) schrieb. Und Joseph Haydn hat ein Rondo „All’Ongarese“ („Nach ungarischer Art“) komponiert, das sich auf die ungarischen Roma bezog. Er hat ja von 1761 bis 1803 am Hof Esterházy gelebt und dort etliche Roma-Kapellen gehört. Mit diesem Stück eröffnet das Atos-Trio das Konzert in der Elbphilharmonie. Es folgt das 2. Klaviertrio von Brahms, der ebenfalls stark von Roma-Musik beeinflusst war; man denke an die „Ungarischen Tänze“ mit etlichen originalen Roma-Melodien.
Musik der Sinti:zze und Rom:nja und ihre Einflüsse auf Joseph Haydn, Johannes Brahms, Maurice Ravel und Pablo de Sarasate mit Atos Trio, Gabor Szabo, Ernö Kállai Kiss/Gipsy Band: 19.1, 19.30 Uhr, Elbphilharmonie, Kleiner Saal. Einführung 18.45 Uhr
taz: Ist das nicht eine übergriffige kulturelle Aneignung?
Hoppe: Das sehe ich nicht so. Denn umgekehrt bedienen sich die Sinti und Roma ja auch und führen bekannte, auch klassische Stücke in ihrem eigenen, abgewandelten Stil auf. Ich würde eher von einer gegenseitigen Inspiration sprechen.
taz: Welche Stilmerkmale übernahmen Klassik-Komponisten von den Roma-Kapellen?
Hoppe: Einen Stil, der darauf abzielte, das Publikum zu begeistern. Denn die Kapellen spielten ja vor allem in Kneipen. Und wenn die Leute dort berührt waren oder beeindruckt von der Virtuosität, zahlten sie besser. Die Musiker nutzten zum Beispiel die ans Herz gehende, melancholische „Zigeunermoll-Tonleiter“, aber auch spezielle Rhythmen. Im Konzert wird man das hören, wenn Gábor Szabó die „Zigeunerweisen“ von Pablo de Sarasate spielt oder „Tzigane“ von Maurice Ravel. Die beginnt mit einer Riesenkadenz, einen Feuerwerk an Virtuosität.
taz: Und wie schaffen Sie den Übergang von der Klassik zur traditionellen Musik?
Hoppe: Wenn es so klappt, wie ich es mir vorstelle, verlasse ich, der Klavierbegleiter, nach dem Ravel die Bühne, die Gipsy Band kommt und übernimmt, zusammen mit Gábor Szabó, der dann das Cluster wechselt und mit ihnen Traditionelles spielt. Damit wollen wir zeigen, dass es für Roma-Musiker keine musikalischen und keine Gattungsgrenzen gibt. Auch nicht zwischen dem klassisch ausgebildeten Gábor Szabó und der traditionellen Gipsy Band. Denn erst mal sind ja alle Musiker und wollen einfach nur spielen. Ob das nun in einem Tanzcafé passiert oder in der Elbphilharmonie, ist eine Dimensionsfrage, aber ansonsten macht es keinen Unterschied: Ob da 2.000 Leute sitzen oder 20 – man spielt, um das Publikum glücklich zu machen.
taz: Wie würde ein Mitglied der Gipsy Band zum Beispiel ein Mozart-Geigenkonzert spielen?
Hoppe: Es fing damit an, dass der Roma-Geiger keine Noten liest, sondern das Stück nach mehrmaligem Hören durch die Mangel drehen, das heißt, es improvisierend verändern kann. Das können klassische Musiker meist nicht; selbst die Kadenz ist meist vom Komponisten vorgeschrieben. Der Roma-Geiger würde ein Mozart-Konzert dagegen nur unter der Bedingung spielen, dass er es so wiedergeben kann, wie er möchte.
1971 geboren ist Pianist und langjähriger Klavierbegleiter des Geigers Itzhak Perlman, hat 2003 das Atos-Trio gegründet, lehrt seit 2018 als Professor für Kammermusik an der Folkwang-Universität der Künste in Essen.
taz: Was käme heraus?
Hoppe: Das Publikum würde durchaus erkennen, dass es Mozarts Geigenkonzert ist. Aber es wäre natürlich um Triller ergänzt, hätte verschiedene Tempi, wäre vielleicht verjazzt – man macht halt etwas draus. Das ist ein anderer Stil, eine andere musikalische Freiheit. Leider hat die Mehrheitsgesellschaft das lange mit der romantischen Freiheit gleichgesetzt, die man mit Roma und Sinti verbindet, nach dem Motto „Die spielen so, weil sie so frei leben.“ Das ist blanker Unsinn.
taz: Warum?
Hoppe: Weil es zum Beispiel innerhalb von Sinti-Gemeinschaften kaum Freiheiten gibt. Vieles ist deutlich strenger geregelt als in der deutschen Tradition: wie man heiratet, wie man sich untereinander verhält, wie man Ältere anredet. Diese Freiheitsklischees zeigen, dass die Mehrheitsgesellschaft bis heute wenig weiß – und sich wenig bemüht, mehr über die Kultur der Sinti, Roma und die Unterschiede zwischen beiden Gruppen zu erfahren.
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