: Ein unbequemer Zeitzeuge
„Zeit heilt keine Wunden“: In ihrer Graphic Novel erzählt Hannah Brinkmann die Geschichte Hans Grubes nach, der als „Halbjude“ von den Nazis verfolgt und später in der BRD als Kommunist verurteilt und inhaftiert wurde
Von Andreas Hartmann
Den in München wohnenden Holocaust-Überlebenden Ernst Grube gibt es inzwischen auch als Hologramm. Der ehemalige Berufsschullehrer stellt sich mit seinen 82 Jahren heute noch leibhaftig als Zeitzeuge vor Schulklassen und berichtet davon, wie er als von den Nazis sogenannter Halbjude kurz vor Kriegsende gemeinsam mit seiner Mutter im Konzentrationslager Theresienstadt eingeliefert und dann von der Roten Armee befreit wurde. Aber lange wird er das nicht mehr tun können, von seiner Lebens- und Leidensgeschichte soll deswegen kommenden Generationen auch mit Hilfe von Virtual Reality berichtet werden. Und zudem nun in Form einer 261 Seiten starken Graphic Novel von der in Berlin lebenden Comicautorin Hannah Brinkmann. Drei Jahre lang hat sie an dem akribischen Porträt von Ernst Grube gearbeitet.
Schon in ihrer ersten Graphic Novel, „Gegen mein Gewissen“, die vor vier Jahren erschienen ist, zeigte sie, dass sie das tragische Leben eines Menschen mit künstlerischen Mitteln und gleichzeitig hohem Anspruch an historische Genauigkeit zu erzählen vermag. Der inzwischen preisgekrönte Comic verhandelt den realen Fall ihres pazifistischen Onkels, der gegen seinen Willen zur Bundeswehr eingezogen wurde und sich daraufhin in den frühen Siebzigern das Leben nahm. Das Buch erregte die Aufmerksamkeit des NS-Dokumentationszentrums München, wo man sich dachte, Brinkmann könne die Richtige sein, um auch Grubes komplizierte Lebensgeschichte in der Bildsprache eines Comics nachzuempfinden. „Zeit heilt keine Wunden“ ist also ein Auftragswerk, aber eines, dem man bis zum letzten Panel anmerkt, dass hier mit sehr viel Begeisterung und Leidenschaft an der Sache vorgegangen wurde.
Beim Treffen in ihrem Atelier in Neukölln sagt Brinkmann, dass sie einen ähnlichen Stoff wie er ihr in „Zeit heilt keine Wunden“ anvertraut wurde, sowieso für ihr nächstes großes Comicprojekt im Sinn hatte. Kontinuitäten der Nazi-Zeit in der BRD hätten sie interessiert. Und mit Grubes Lebensgeschichte hatte sie es plötzlich genau mit einem solchen Thema zu tun. Denn deren Tragik endet in besonderer Weise nicht am Tag der Befreiung, sondern geht in der BRD mit neuen Facetten und in teils grotesker Weise weiter. Schließlich war und ist Grube Kommunist. Der einst von den Nazis als „Halbjude“ Verfolgte macht sich als solcher im neuen System nicht nur unbeliebt, sondern als renitentes Mitglied der bald verbotenen KPD auch strafbar. Später in den Siebzigern wird er, wie so viele andere Kommunisten auch, gar Opfer des Radikalenerlasses und war kurz davor, seine Stelle als Lehrer zu verlieren. Als jemand, der zwar unter den Nazis gelitten hat, dann aber der BRD so kritisch gegenüber stand wie diese ihm, ist er also ein Zeitzeuge mit einer ganz besonderen Vita, ein unbequemer Zeitzeuge, wenn man so will.Und auch wenn Brinkmann die Episode mit dem Radikalenerlass beiseite lässt, weil die Geschichte dieses Lebens auch schon so komplex genug für einen Comic ist, wie sie findet, nimmt sie sich genügend Raum, um nach dem ganzen Horror im Dritten Reich auch noch den skandalösen Umgang in der BRD mit jemandem wie Grube zu beschreiben.
Sie hat sich mehrfach mit ihm getroffen, sich via Zoom aus seinem Leben berichten lassen, und sie sagt, sie habe dabei einen Menschen kennengelernt, den sie inzwischen als einen Freund bezeichnet, der immer „gegen Entmenschlichung“ eintrat, und „dafür, dass jeder Mensch gleich ist“. Mit diesem Menschenbild habe sie sich auch Grubes Hinwendung zum Kommunismus erklärt. „Ernst kam aus der NS-Zeit und hat im BRD-System bloß eine Übergangslösung gesehen“, glaubt sie, „aber eigentlich erhoffte er sich einen wirklichen Neuanfang und den sah er im Kommunismus.“
„Zeit heilt keine Wunden“ ist natürlich nicht die erste aus den Erzählungen eines Zeitzeugen destillierte Geschichte eines Holocaust-Überlebenden in Comicform. Erst im letzten Jahr gab es von Barbara Yelin die gezeichneten Erinnerungen der Überlebenden Emmie Arbel in einer Graphic Novel. Vor allem wäre jedoch „Maus“ von Art Spiegelman zu nennen, der sich von seinem Vater von der Hölle Auschwitz berichten ließ und mit seinem Comic einen bahnbrechenden Klassiker schuf. „Maus“ beschreibt Brinkmann als „ein unfassbares Werk“, aber sie habe sich trotz ihrer Bewunderung für diesen Comic von dessen Einfluss frei machen wollen, um so leichter einen eigenständigen Ansatz für ihre Graphic Novel finden zu können. Außerdem habe „Ernst ja im gleichen Kontext andere Erfahrungen gemacht als Spiegelmanns Vater.“
Aber ganz von „Maus“ lösen kann man sich bei einem Projekt wie „Zeit heilt keine Wunden“ wohl nicht. In ein paar ihrer Panels verfremdet Brinkmann ranghohe Nazis und zeichnet sie als Hähne. Das erinnert an Spiegelmans „Maus“, wo die Nazis durchgehend als Katzen gezeigt werden und Juden und Jüdinnen als Mäuse. Mit diesem Kunstkniff habe sie vielleicht dann ähnlich wie Spiegelman Nazis karikieren, und sie „aus ihrer Allmachtsposition bringen wollen. Deswegen sind sie auch Hähne und nicht etwa Raubtiere.“
Für ihre Graphic Novel hat sie sich nicht bloß alles von Ernst Grube erzählen, sondern sich von diesem auch mit allerlei Dokumenten versorgen lassen. Sie hat Tagebücher anderer Überlebender gelesen, war in Archiven und in Theresienstadt. „Wenn ich etwas zeichnen will, muss ich so viel wie möglich darüber wissen, damit ich es auch zeichnen kann“, sagt sie. Das mache sie jedoch nicht zur zeichnenden Historikerin, sie bleibe jemand, der „die Akten nur als Künstlerin interpretieren“ könne. Dieser Spagat zwischen historischer Genauigkeit und einem gleichzeitig hohen künstlerischen Anspruch macht „Zeit heilt keine Wunden“ zu dem spannenden Werk, das es geworden ist und das zu Recht für den deutschen Comicbuchpreis 2024 nominiert wurde.
So weitgehend nüchtern, sachlich und zudem chronologisch sie das Leben des Holocaust-Überlebenden Ernst Grube nacherzählt, so spielerisch und fantasievoll verarbeitet Brinkmann dieses zeichnerisch. Immer wieder tauchen Pflanzen auf, die gemeinsam mit den Hoffnungen und Wünschen Grubes metaphorisch erblühen oder verdorren. Außerdem zeigt sie den Überlebenden nicht nur von außen, sondern auch sprichwörtlich von innen. Aus einem Schrank kramt sie ein Anatomiebuch hervor, das sie für derartige Zeichnungen verwendet habe.
Als Grube ihr zum Beispiel sagte, bei einer bestimmten Begebenheit habe es sich für ihn so angefühlt, als hätte er einen Kloß im Hals gehabt, habe sie sich gedacht, so einen Kloß im Hals könne man ja auch als echten Vorgang im Körper darstellen. Brinkmann zeigt in ihrem Comic also, wie Effekte von Angst und Schmerz auch im Inneren des menschlichen Körpers aussehen könnten. Ein wenig wirkt das so, als wollte die Autorin den von ihr Porträtierten samt seinen Erlebnissen wirklich bis auf die Knochen durchdringen.
Hannah Brinkmann: „Zeit heilt keine Wunden“. Avant-Verlag, Berlin, 261 Seiten, 30 Euro
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