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Neue Intendantin am Thalia Theater„Ich möchte vermitteln, dass Theater nicht beißt“

Sonja Anders wechselt als Intendantin von Hannover ans Thalia Theater nach Hamburg. Das könnte mehr Freude im Spielplan versprechen – und mehr Frauen.

Lust auf niedrige Schwellen: Sonja Anders beim Besuch ihrer künftigen Wirkstätte, dem Thalia Theater in Hamburg Foto: Christian Charisius/dpa

Lackiert in so einem angeschmuddelten Postfachgelb erobern die Garderobenschränke sofort Aufmerksamkeit beim Betreten des kühlweiß strahlenden Schauspielhauses in Hannover. Als Sonja Anders dort 2019 als Intendantin einzog, wollte sie die Spindtüren überstreichen lassen. Was aber sehr teuer gewesen wäre. So ließ sie lieber weitere gelbe Akzente im Haus setzen, auch auf den Tickets sind Logo und Schriftzug passend gedruckt. Von Mitarbeitenden wird Anders auch „Sunny“ genannt, wohl wegen ihres sonnigen Gemüts.

Gelb wurde so was wie die Symbol- und Stimmungsfarbe ihrer Spielzeiten. Besonders das heitere Optimismusgelb und die herzwärmend lebensfreudige Zuversicht des Sonnengelbs. Klingt jetzt etwas pathetisch, aber Anders legt in unseren Krisenzeiten großen Wert auf lichtsuchende, energiespendende Inszenierungen und lässt die Freuden der Diversität feiern. „Dabei hat sie eine große Offenheit und Empathie für alle, die mit dem Theater fremdeln“, sagt Nora Khuon.

Mit Chefdramaturgin Khuon – sowie Regisseurin Anne Lenk – bildet Anders ab Sommer 2025 das erste weibliche Leitungsteam des Hamburger Thalia Theaters. Beider Zugang zur dramatischen Kunst aber könnte unterschiedlicher kaum sein: Khuon lebt schon seit Kindertagen im Theater, ihr Vater ist der Intendant Ulrich Khuon – Konstanz, Hannover, Hamburg, Berlin, zurzeit Zürich –, ihr älterer Bruder Alexander ist Schauspieler.

Ins Theater nur mit der Schule

Anders hingegen wurde 1965 in Hamburg in „sehr einfache“ Verhältnisse hineingeboren, der Vater war ein „einfacher Angestellter“. Nach der Scheidung der Eltern wuchs sie mit ihrer Schwester bei der Mutter auf. „Wenn man heute sagt, 47 Prozent der Alleinerziehenden seien armutsgefährdet, dann waren wir das damals definitiv.“ Ins Theater seien ihre Eltern nie gegangen, sie selbst kann sich nur an einen Besuch mit der Schule erinnern. Dafür stromerte Anders schon in Kindertagen durch Bibliotheken und schleppte Monat für Monat die maximale Zahl von 20 Leihbüchern nach Hause. Dort lag sie oben auf ihrem Etagenbett und genoss „Literatur als Fantasieort, eine Form der Gegenwelten“, wie sie sagt. Vielleicht ja deswegen prägen Prosa-Adaptionen heute ihre Spielpläne.

Der Welt zu wandte sich die Jugendliche in der Punk- und New-Wave-Szene. „Ich hatte gefärbte Haare, jobbte in Kneipen, ging in Clubs wie das 'Versuchsfeld’ in Bahrenfeld und mochte sehr die 'Geräusche für die 80er’-Festivals von Klaus Maeck in der Markthalle. In der Zeit habe ich gelernt, dass man die Grenzen, die die Gesellschaft aufzeigt, anfassen und verändern kann. Es zählt nicht Geld, sondern Originalität und Kreativität.“ Bis heute ist es Anders wichtig, sich für die freie Szene und die Förderung der Subkultur zu engagieren. „Wenn Kneipenräume so teuer und geleckt werden oder Bands keine Proberäume mehr haben, ist das fatal für die Jugendkultur in unseren durchgentrifizierten Städten.“

Germanistik mit Schwerpunkt Medien und Theater konnte Anders schließlich an der Universität Hamburg studieren. Dort hat sie erstmals mit einer freien Theatergruppe herumprobiert: „Das war eine Schockverliebtheit in das Theater!“ Sie habe sofort verstanden, dass sie nicht Schauspielerin werden wollte, nicht Regisseurin, sondern Dramaturgin. Bald absolvierte sie eine entsprechende Hospitanz am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, ging dann ans Staatstheater Stuttgart, wurde Chefdramaturgin am Thalia und am Deutschen Theater in Berlin. „Ich habe mir das alles selbst erarbeitet, ich kann auch ganz gut allein sein, habe auch viel allein gewohnt“, so Anders.

Glück ist nicht langweilig

Jetzt ist sie Mutter dreier Kinder und Intendantin. „Wobei meine Arbeit zu 90 Prozent aus Problembewältigung besteht“, sagt sie. „Da ist zuerst das Finanzielle, dann das Organisatorische, die Konfliktbewältigungen und schließlich das Künstlerische. Aber ich habe das Gefühl, in dieser Position etwas gestalten zu können, fühle mich freier als in der dramaturgischen Position.“ Was die Neue als Chefin auszeichnet, beschreibt Khuon so: „Sonja verliert sich nie in persönlichem Kleinklein, hat immer die großen Zusammenhänge im Blick. Und findet auch aus noch so kritischen Dialogen immer ins gemeinsame Arbeiten.“

Dass Herkunft nicht stigmatisieren und von der Theaterkunst als Lebensmittel ausschließen muss, ist aus Anders’ eigenem Werdegang zu lesen. Und es soll Folgen haben. „Ich möchte vermitteln, dass Theater nicht beißt. Dass man nicht blöd ist, wenn man nicht alles sofort versteht, weil die Kunstform inzwischen doch recht hochgejazzt ist. Die Sprache, die Bilder, das assoziative Erzählen können überfordern. Ich habe mir das selbst angeeignet und das Theater für mich entdeckt.“ Sie glaube an diese Lernprozesse – habe beispielsweise jahrelang all die Gleichstellungsdebatten nicht genügend beachtet, dann in Hannover aber Geschlechterparität bei der Auswahl von Schauspielenden praktiziert und ein wohltuend diverses Ensemble engagiert; viel wurde darüber diskutiert.

„Inzwischen ist das selbstverständlich, auch für das Publikum. Wir reden jetzt gar nicht mehr so viel darüber. Dieser Umgang mit den sexistischen und rassistischen Anteilen in uns ist mir sehr wichtig, auch für das menschliche Reifen. Ich habe an mir selbst erlebt, wie man mit Theater den Blick auf sich und die Welt verwandeln kann.“ Das müsste auch bei anderen funktionieren.

Aber nicht nur achtsam aufklärerische Helden toben durchs Schauspielhaus Hannover, auch verkopfteres Dra­ma­tur­g:­in­nen­thea­ter hat dort seinen Platz – so wie mancher Bösewicht: „Die Autokraten, Diktatoren, totalitären Charaktere von heute zeigen wir mit all ihren Lügen und ihrem Populismus in Stücken der Antike und von Shakespeare, wo sie niemals die Erlösung, immer das Problem sind. Aber die Gegenerzählung ist nicht die Stärke des Theaters. Ulrich Khuon hat immer gesagt, Glück sei langweilig auf der Bühne“, sagt Anders. „Aber ich mag das nicht so wirklich glauben, und das Publikum auch nicht.“

Meine Arbeit besteht zu 90 Prozent aus Problembewältigung, sagt die dreifache Mutter

So hadert sie ein wenig mit der jüngsten Premiere, „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann, die sich wahnsinnig düster um zerstörte menschliche Beziehungen dreht. Und eben jeden Anflug sonnengelb-erhellender Gedanken verweigert. „Freude bringt mehr Bewegung in den Menschen, mehr Veränderung, hat vielleicht sogar mehr revolutionäres Potenzial als Affekte wie Hass und Wut. Regisseurin Jorinde Dröse ist ein gutes Beispiel für freudvolles Aktivieren von Widerstand.“ Gemeint ist deren Inszenierung von Mareike Fallwickls „Die Wut, die bleibt“,wieder ein Roman: „Frauen und Care-Arbeit, ein Thema, das wirklich umtreibt, die Leute rennen uns die Bude ein, springen auf, weinen, sind ergriffen und dankbar, dass einem dieses Leid jemand auf der Bühne ein bisschen abnimmt“, so Anders – „Katharsis im besten Sinne.“

Die Power, Zu­schaue­r:in­nen mitzunehmen

In jeder Spielzeit setzt sie auf mitreißende, auch anrührende Selbstverständigungsabende für LGBTQ+-Communitys, PoC, Kinder und Enkel türkischer Gastarbeiter, Polizist:innen, perspektivlose Jugendliche, Betroffene von rassistischer und klassistischer Ausgrenzung, Fußballfans, alte weiße gescheiterte Männer, junge weiße gescheiterte Frauen … Ihre Idee: Zugänglichkeit erhöhen durch klare Botschaften, nachvollziehbare Inhalte, sinnlich direktes Spiel. Auch leicht als „Wokeness-“ oder „Identitätsthemen“ Abzutuendes soll heiter und bunt daherkommen.

Das wird – auch hausintern – nicht nur gefeiert, erklärte Hochkulturmenschen bezeichnen die Produktionen mitunter als thesenhaft simpel oder plump aktivistisch. Darüber streitet Anders sich dann auch mal mit Kritiker:innen: „Ja, das ist niedrigschwellig und nicht wahnsinnig um acht Ecken gedacht, aber das hat doch eine Power, die die Zu­schaue­r:in­nen mitnimmt, sich mit den Figuren zu identifizieren, mitzufiebern und sich dabei vielleicht ein kleines Stück weit zu verändern!“

Im Sommer 2025 kommt Anders zurück nach Hamburg. Warum ist sie eine Idealbesetzung fürs Thalia? „Weil sie eine Erneuerin ist, ohne etwas kaputtzumachen“, sagt Khuon. Im Ensemble werde es große Kontinuität geben. Aber es würden deutlich mehr Regisseurinnen engagiert, als es Vorgänger-Intendant Joachim Lux ermöglicht hat. Auf dem Programm sollen wenig Klassiker, viele Romane und Uraufführungen stehen. Für Anders ist die Hauptfrage ihrer Thalia-Arbeit, „wie verführe ich Menschen zu gemeinsamem und kraftvollem Widerstand gegen das, was gerade auf uns zurollt an Rückwärtsgewandtheit, Ängstlichkeit und Panik. Wie erreichen wir noch mehr Empowerment“. Und einen noch vielfältigeren, noch gelberen Spielplan?

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