: Wie Corona China verändert hat
Im Reich der Mitte begann die Pandemie vor 5 Jahren nicht nur, sondern wirkt auch weiterhin nach: wirtschaftlich, politisch, ideologisch
Von Fabian Kretschmer
Es mutet wie ein Déjà-vu an: überfüllte Spitäler, Patienten mit Fiebersymptomen, und alarmierende Postings in den sozialen Medien. Fünf Jahre nach Beginn der Coronapandemie sorgt erneut ein Virus-Ausbruch in China für internationale Schlagzeilen. Doch Experten geben vorerst Entwarnung: Bei HMPV, dem Humanen Metapneumovirus, ist vorerst kein Grund zur Panik angebracht. Der Erreger wurde zudem bereits im Jahr 2001 isoliert.
Anders war dies zu Beginn des Jahres 2020, als erstmals Gerüchte über eine mysteriöse Lungenkrankheit aus Wuhan die Runde machten. Ein Erreger, der am 10. Januar erstmals von der Weltgesundheitsorganisation WHO als „neues Coronavirus“ bezeichnet wurde. Sars-CoV-2 wurde zunächst von den chinesischen Behörden verschleiert, dann mit einer rigiden „Null Covid“-Politik eingedämmt, nur um in Form der Omikron-Variante schließlich weite Teile des Landes in eine endlose Lockdown-Schleife zu stürzen. Und über allem hat die Parteiführung die Pandemie genutzt, die Gesellschaft grundlegend umzupflügen.
Grund genug also, einmal zurückzublicken auf jene Zäsur, die China in ein vorher und nachher teilt.
Wo das Virus einst seinen Ausgang nahm, erinnert fünf Jahre später weder eine Gedenktafel noch ein Traueraltar an die historischen Ereignisse. Der Huanan-Fischmarkt, nur einen Steinwurf vom Bahnhofsviertels in Wuhan entfernt, wird weiterhin von blauen Bauplanen abgeschirmt. Wo sich im Dezember 2019 erstmals Dutzende Personen mit dem neuartigen Erreger ansteckten, soll nichts mehr an die Vergangenheit erinnern. Und mindestens ebenso heikel ist die Tatsache, dass sich nur wenige Kilometer vom Huanan-Fischmarkt entfernt Wuhans Institut für Virologie befindet; ein Labor, in dem Forscherinnen und Forscher Proben von Fledermäusen aus Südchina sammelten und vor der Gefährlichkeit der entnommenen Viren warnten.
Alles nur reiner Zufall? Ob Corona nun aus dem Tierreich stammt, wie viele Experten vermuten, oder fahrlässig aus einem Labor entsprang: Dass diese Frage nicht abschließend geklärt werden konnte, hat vor allem mit der mangelnden Transparenz der chinesischen Behörden zu tun, die während der kritischen Anfangsphase der Pandemie sensible Daten unter Verschluss hielten.
Zur Ironie der Geschichte gehört auch, dass ausgerechnet in Wuhan die Propaganda der chinesischen Staatsmedien auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Pandemie wurde am mutmaßlichen Ursprungsort, bereits wenige Monate nachdem der erste Coronalockdown überstanden war, als vornehmlich ausländisches Phänomen wahrgenommen. Jeden Abend berichtete das Staatsfernsehen über die Covid-Toten in den USA und Europa, während im Reich der Mitte eine scheinbar keimfreie „Null Covid“-Utopie zu herrschen schien.
Und der Ursprung des Virus? Den vermuteten schon damals viele Bewohner Wuhans, ermutigt durch die kruden Verschwörungstheorien der Parteizeitungen, in einem US-Biowaffenlabor. Nur konsequent scheint nach dieser Logik, dass ausländische Besucher während der ersten Pandemie-Jahre in Wuhan besonders argwöhnisch beäugt worden sind: Die Fremdlinge könnten schließlich das Virus erneut in die Stadt einschleppen.
Im größten Museumsgebäude der Stadt wurde bereits 2021 eine patriotische Ausstellung über den gewonnenen Coronakampf der Chinesen organisiert: Die Pandemie wurde dabei nicht nur als reine Erfolgsgeschichte inszeniert, sondern bereits überwunden geglaubt. Zhao Lijian, Sprecher des Außenministeriums in Peking, sagte damals voll überbordendem Selbstbewusstsein gegenüber den internationalen Korrespondenten, dass diese sich doch vor Glück ins Fäustchen lachen könnten, in Sicherheit vor dem Virus in China leben zu dürfen. Niemand hätte damals ahnen können, dass sich mit Omikron das Blatt noch einmal fundamental wenden sollte.
Ansage in Schanghai
Denn spätestens Ende 2022 ähnelte der Alltag der allermeisten Chinesen einem virologischen Spießrutenlauf aus täglichem PCR-Test, digitaler Überwachung und wochenlangen Lockdowns. Doch während in vielen Ländern die Leute ihre Zeit daheim mit langen Spaziergängen und Yoga verbrachten, waren die Chinesen wortwörtlich eingesperrt – entweder durch einen Bewegungsmelder vor der Wohnungstür oder manchmal auch ein breites Stahlschloss. Schanghai, die wohlhabendste und internationalste Metropole des Landes, wurde knapp drei Monate vollständig abgeriegelt. Vom Lieferkurier bis zum deutschen Konsul: Alle saßen sie in ihren Wohnungen fest, vollkommen von staatlichen Essenslieferungen abhängig. Reich war damals nicht, wer ein sechsstelliges Jahresgehalt verdiente. Sondern wer über Kühlschrank und gefüllte Speisekammer verfügte.
Als Bewohner der Hochhaussiedlungen ihren Frust in Schanghais Nachthimmel brüllten, ließ die Lokalregierung Drohnen aufsteigen: „Beherrschen Sie den Drang Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster – und singen Sie nicht“, verkündeten die Lautsprecher der Flugobjekte.
Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Viele der Chinesen, die den Corona-Ausbruch aus direkter Nähe beobachtet haben, machen sich keine Illusionen mehr über die Glaubwürdigkeit der Staatsführung. Vor allem in Wuhan haben etliche Bewohner gesehen, wie ihre Nachbarn reihenweise sterbenskrank wurden, während die Behörden noch behaupteten, dass das Virus nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden könne. Und der Doktor Li Wenliang, der als Whistleblower Alarm schlug, wurde von der Partei mit einem Maulkorb abgekanzelt. Im Februar 2020 starb der 33-jährige Li selbst an den Folgen des Virus.
Wanke hat den Lockdown in Wuhan als Student miterlebt. Er half als Freiwilliger bei der Telefonseelsorge aus. Mit Hunderten Erkrankten, die ängstlich und allein in ihren Wohnungen ausharrten, sprach er damals über ihre tiefsten Sorgen. Viele von ihnen haben die Zeit nicht überlebt.
Für den Anfangzwanziger war dies ein Wendepunkt in seinem Leben: Den ursprünglichen Berufswunsch, Journalist zu werden, gab der junge Mann auf. Stattdessen entschied er sich für seine Leidenschaft als Rockmusiker. Denn in der Kunst, so sagte er mit melancholischem Unterton, könne er sich noch wirklich und wahrhaftig ausdrücken. Im Journalismus sei dies längst nicht mehr der Fall.
Wer das Land während jener Jahre bereiste, traf auf unzählige junge Leute, deren Lebenswege durch die Pandemie eine vollkommen andere Abzweigung nahmen. Etwa die Mittdreißigerin Lili aus Wuhan, die mittlerweile an der US-Westküste lebt, weil sie das repressive Klima und die zunehmende Isolation während der Pandemie nicht mehr ausgehalten hat. Als Xi Jinping dann im Zuge seiner Regulierungswut auch noch private Englischnachhilfe unter Verbot stellte – möglicherweise auch, um den Blick der Jugend nicht allzu sehr über den nationalen Tellerrand zu richten –, brachte dies das Fass für Lili zum Überlaufen: In einer solchen Gesellschaft wollte sie ihren Sohn nicht aufwachsen lassen. Und ihre Emigration war auch deshalb von einer Dringlichkeit durchtrieben, weil während der letzten Jahre immer mehr Chinesen mit Ausreisesperren belegt wurden: Von Lehrkräften bis Angestellten von Staatsunternehmen – Millionen mussten ihre Reisepässe abgeben.
Doch die Pandemie gab der Volksrepublik China auch die Möglichkeit, sich wirtschaftlich zu häuten – unbemerkt von der Weltöffentlichkeit. Die Industriepolitik unter Xi Jinping führte zu einer atemberaubenden Transformation hin zu erneuerbaren Energien und Elektromobilität. Als die deutschen Automanager erstmals nach Öffnung der Grenzen 2023 wieder zur Branchenmesse nach Schanghai anreisten, traf sie ein Schock, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben: Die traditionellen Marktführer merkten auf einmal, wie radikal sie bei E-Autos und Batterien technologisch hinterherhinkten. Mit runtergefallener Kinnlade stierten sie auf die Straßen der Ostküstenmetropolen, wo längst zu großen Teilen futuristische Pkws von chinesischen Autobauern fuhren, von denen sie zuvor niemals gehört hatten.
Aber nach fünf Jahren Pandemie bleibt vor allem der Eindruck zurück, dass Corona die hässliche Fratze der immer autoritärer werdenden Parteiführung offenbart hat: Anders ist nicht zu erklären, dass trotz der schwerwiegendsten medizinischen Notfallsituation der letzten Jahrzehnte China selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO über ein Jahr hinhielt, ehe sie ein Expertenteam ins Land ließ.
Doch was die Forscher im Frühjahr 2021 in Wuhan zu sehen bekamen, war lediglich eine inszenierte Choreografie unter Leitung der KP. Die abschließende Pressekonferenz der Untersuchungskommission wurde von Mi Feng, Sprecher der chinesischen Gesundheitskommission, gleich zu Beginn torpediert: „Wir haben bereits den China-Teil der Ursprungssuche beendet.“ Nun würde er empfehlen, in Südostasien weiterzusuchen.
Damals machten die WHO-Experten gute Miene zum bösen Spiel – allein schon aus Angst, die fragilen Zugänge zum Reich der Mitte sonst vollends zu verlieren. Längst jedoch ist auch bei der Weltgesundheitsorganisation der Geduldsfaden gerissen. „Wir fordern China weiterhin auf, Daten und Zugang zu teilen, damit wir die Ursprünge von Covid-19 verstehen können“, hieß es auch fünf Jahre später vom WHO-Sprecher: „Dies ist ein moralisches und wissenschaftliches Gebot.“ Es gehe darum, Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Doch in der Volksrepublik wird die Kritik schlichtweg abgeschüttelt: China habe nicht nur die meisten Daten geteilt, sondern auch den größten Beitrag zur Suche nach dem Ursprung des Virus geleistet, sagte Mao Ning, Sprecherin des Außenministeriums, am 31. Dezember. Und fügte mit bierernster Mine an: „Chinas Offenheit und Transparenz hat die Erwartungen übertroffen“.
Der Autor war während der Pandemie Korrespondent in Peking.
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