Bestseller „Sarajevo Marlboro“ wird 30: Wenn die kleinen Dinge zuerst sterben
1995 publizierte Miljenko Jergović seinen Erzählband über den Bosnienkrieg. Jetzt erscheint eine Fortsetzung, die an aktuelle Kriegsfolgen erinnert.
In diesem Jahr jährt sich in Bosnien zum 30. Mal das Kriegsende. Zwischen 1992 und 1995 fanden hier die brutalsten Massaker der Sezessionskriege statt, in denen sich die sozialistische Föderation Jugoslawien auflöste. Srebrenica, holländische Blauhelme, Flüchtlinge auf Traktoranhängern, die Belagerung von Sarajevo, Dayton-Abkommen, Versagen des Westens, die größte Opfergruppe unter den Opfern dieses ersten Krieges in Europa nach 1945 – das sind mehr oder weniger die Dinge, die in der Bosnien-Ecke stünden, gäbe es ein Museum fürs europäische Kriegsgedächtnis.
Die Aufgabe, zu schildern, wie der Krieg den Alltag und das Zwischenmenschliche beeinflusst, fällt meist den Literaten zu. Es gibt keine Gedenksteine für die Notlügen, die Halbwahrheiten, die Scham, den Geiz, den Neid, die Angst, die Liebe, die unglückliche Ehe, den dummen Zufall, all das, was weiter existiert. Egal, wie sehr einem gerade die Granaten um die Ohren fliegen und wie die Söhne, Väter, Nachbarn und Schulfreunde sterben.
Einen dieser Gedenksteine hat Miljenko Jergović vor 30 Jahren mit seinem Erzählband „Sarajevo Marlboro“ errichtet. Damit wurde er weltweit berühmt und zählt heute zu einen der größten zeitgenössischen Erzähler Europas. Er floh während des Krieges aus seiner Heimat Sarajevo und lebt seitdem im kroatischen Zagreb.
Heute sind Kriegsverbrecher bestraft, Mahnmale und Grabsteine errichtet. An die Aufgabe, zu beschreiben, wie sich individuelle Erinnerungen an das, was damals in Sarajevo war, verändert hat, wagte sich erneut Jergović. 30 Jahre nach seinem Debüt hat er noch einmal einen Erzählband veröffentlicht.
Ähnliche Struktur, andere Details
Die Anordnung und Struktur des ersten Buches wurde übernommen, das Personal und die Dinge variieren. Wo in „Sarajevo Marlboro“ ein Saxofonist eine Rolle spielte, tritt nun in „Das verrückte Herz“ eine Unterhose auf, die mit blauen Saxofonen bedruckt ist. Jergović ruft Bilder auf, die sich in die Erinnerung gebrannt haben, aber eben nicht im Blick auf die großen Massaker verharren, sondern auf verkohlte Wäsche, die vor der Ruine eines beschossenen und verlassenen Wohnhauses flattert.
Er erzählt von einer Tante, die beim ersten Granateneinschlag glaubte, ihre Seele sei aus dem Fenster geflogen, die man ihr zuvor aus der Brust geschossen hatte, und jegliche Erinnerung verlor. Er erzählt vom stets hilfsbereiten Nachbarn, der plötzlich als Kommandant der serbischen Armee vor der Tür stand, von dem Kind, das sich beim Spielen die Zunge verletzte und die Mitschüler wie die eigenen Eltern es für geistig beschränkt hielten.
Krieg ist, wenn auf niemanden mehr Verlass ist
Er erzählt von einer notorischen Diebin, nach deren Tod eine Notlüge dafür sorgte, dass die Erinnerung an den gebeutelten Ehemann in besserem Licht erscheint, von Scheidungskindern mit geschwollenen Lymphknoten, vom Dachdecker, der vom Dach fiel und starb, während die Legende behauptet, er sei von einem Scharfschützen erschossen worden.
Fast alle Geschichten kreisen darum, in den kleinen Dingen Wahrheit zu finden. Also das, von dem es immer heißt, dass es das erste Opfer im Krieg ist. In Jergovićs Erzählungen muss dieser Satz kein einziges Mal fallen, um trotzdem ständig präsent zu sein. Wobei hier Wahrheit durch Erinnerung ersetzt werden müsste. „Die, die sich erinnern, mein Sohn, blieben im Krieg in der Stadt. Die, die sich nicht erinnern, gingen in die Berge und schießen auf die Stadt“, sagt ein Protagonist.
Oft handeln die Geschichten von den verschiedenen Versionen, wer wie umgekommen ist und meistens darum, in welchen Momenten realisiert wurde, dass Krieg ist und was Krieg ist. Krieg ist, wenn sich das Publikum an ein verstimmtes Orchester gewöhnt hat, wenn keine Vögel mehr in der Stadt zu hören sind, wenn man mit Beschuss umgeht wie mit schlechtem Wetter:
Nimm einen Regenschirm, wenn du rausgehst, wird schon gut gehen. Krieg ist für den Tramfahrer nicht, solange die Straßenbahnen noch nach Fahrplan fahren. Krieg ist, wenn auf niemandem mehr Verlass ist: „Wer den Nachbarn voll vertraute, starb zuerst. Überall.“
Kriegserinnerungen locken Touristen in die Stadt
Die Erinnerung an den Krieg ist bis heute ein Grund, der Touristen nach Sarajevo lockt. Dort bekommen sie geboten, nach was sie suchen. Große bunte Karten hängen überall in der Stadt und schlagen Spaziergänge zur Sniperalley vor oder bieten geführte Touren mit Namen wie „Times of Misfortune“ an, um den Interessierten zu zeigen, was sie schon kennen, zum Beispiel die Stelle auf der Hauptstraße, an der das erschossene Kind in der Blutlache liegt.
Im ersten Erzählband Jergovićs stellte sich ein Protagonist vor, wie schön es wäre, wenn Sarajevo auf Büchern aufgebaut wäre. Was poetisch klingt, hatte den Hintergrund, dass die Sarajlis in der Not ihre Bücher als Heizmaterial benutzten.
30 Jahre später erinnert Jergović nicht mehr an diese Episode, sondern daran, dass die National- und Universitätsbibliothek im Spätsommer 1992 brannte. Aber dieses Verbrechen wird nur aufgerufen, um von der verkohlten Wäsche zu erzählen und von den Stützstangen, zwischen denen die Wäscheleine aufgehängt war und die immer noch stehen. Es sind eben nicht die Bücher, die den Krieg überleben, sondern die Stützstangen zum Wäscheaufhängen.
Offene Enden
Die Erzählungen Jergovićs sind bei aller Schnörkellosigkeit so dicht erzählt, dass man sich beim Lesen trotz der Kürze sofort in die Szenerie versetzt fühlt. Am Ende der Geschichten wird man abrupt allein gelassen. Meistens ist das Ende offen.
Wurde die Frau nun vergewaltigt? Wurde die jüdische Familie erschossen? Hat der Kommandant ihn abgeführt? Es sind Cliffhanger, aber keine, wie sie ein Serienkrimi generiert, der süchtig nach der nächsten Episode macht.
Miljenko Jergović: „Das verrückte Herz. Sarajevo Marlboro remastered“. 399 Seiten, Suhrkamp 2024
Es sind offene Enden, wie sie auch in Friedenszeiten existieren: Man hört nichts mehr voneinander, weiß nicht, ob sich das Paar am Ende wirklich getrennt hat, ob die Lymphknotenschwellung des Jungen abgeheilt ist, wie lange die Nachbarn noch in der leer stehenden Wohnung lebten, in der die wunderliche Alte gestorben war.
30 Jahre nach Erscheinen des ersten Erzählbandes von Jergović und kurz nach Erscheinen des Nachfolgers gibt es übrigens wieder keine National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo. Sie wurde geschlossen. Nicht, weil sie jemand angezündet hatte, sondern weil dem Staat das Geld fehlt, um sie weiter zu unterhalten.
Eine Geschichte, wie sie Jergović nicht besser hätte erfinden können. Die Folgen des Krieges sind eben nicht nur dann spürbar, wenn geschossen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!