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Anschläge in Magdeburg und New OrleansZeiten der gewalttätigen Selbstermächtigung

Bernd Pickert
Kommentar von Bernd Pickert

Die Anschläge in Ostdeutschland und den USA passen in die Zeit: Es gibt offenbar zunehmend Menschen, die sich getrieben sehen, ein Fanal zu setzen.

Passanten betrachten den Gedenkort nach dem Attentat im French Quarter Foto: Georg Walker/ap

N ew Orleans und Magdeburg. Zwei Anschläge innerhalb weniger Tage, geografisch Tausende Kilometer voneinander entfernt. Die Tatwaffen sind Autos, die mutmaßlichen Täter sind Männer, die Motive undurchsichtig. Mutmaßlicher Islamhasser der aus Magdeburg, mutmaßlicher Islamist der aus New Orleans, persönlich auffälliges Verhalten zeigten sie beide, verwertbare Hinweise auf ihre bevorstehenden Gewalttaten aber nicht.

Bei beiden ist keine wirkliche Zugehörigkeit zu organisiert militanten Gruppierungen bekannt. Beim Täter aus New Orleans heißt es, er sei von der Terrorgruppe Islamischer Staat inspi­riert worden – aber in den Videos, die er noch auf der Fahrt von Texas nach New Orleans ins Netz stellte, spricht er davon, er habe eigentlich seine Familie umbringen wollen, sich dann aber für den Islamischen Staat entschieden. Und der mutmaßliche Täter aus Magdeburg fürchtet sich vor einer Islamisierung Deutschlands und Europas und rast dann durch einen Weihnachtsmarkt.

Das ergibt alles keinen Sinn – passt aber in unsere Zeit. Denn es ist zu befürchten, dass es immer mehr Menschen geben wird, die sich getrieben sehen, ein Fanal zu setzen. Die Gründe dafür können vielfältig sein, genau wie jene Meinungsblasen, von denen sich die Täter Zustimmung erwarten, ja, die sie womöglich mobilisieren wollen.

Denn das Gefühl, dass die Welt auf den Abgrund zusteuert, hat sich verallgemeinert – interessanterweise vor allem im Globalen Norden, allgemein „Westen“ genannt. Was der Abgrund ist, definieren unterschiedliche Gruppen anders. Für die einen ist es die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang, vor dem Ende eines Lebensmodells, zu dem sie keine Alternative kennen oder wollen. Manche sehen ihre Religion bedroht, manche sehen sich von Religion bedroht.

Kein polizeiliches Maßnahmenpaket kann solche Taten sicher verhindern

Und nicht zu vergessen jene seit der Coronapandemie größer gewordene Gruppe, die einen fremdgesteuerten, übergriffigen Staat herbeifantasiert, der mit Zwangsimpfungen und gesteuerter Massenmigration die „weiße Rasse“ auslöschen wolle. Realer ist – bei wieder anderen – die Angst vor dem menschengemachten Klimawandel und der Unfähigkeit der Politik gegenzusteuern.

So unterschiedlich faktenbasiert diese Bedrohungsempfindungen sind: Wahrgenommen werden sie als essenziell. Deshalb reichen sie manchen als Grund, anderen – wie vermutlich dem Attentäter aus New Orleans – als Vorwand zur Selbstermächtigung zum Scharfrichter. Dem scheinbar unabänderlichen Schicksal setzen sie den ultimativen Regelbruch entgegen und überhöhen sich dabei selbst. Wobei der bislang etwa bei Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen nicht blutig ausgefallen ist.

Angesichts dessen, wie vielfältig die Stimmen sind, die sich im Netz dystopisch äußern, ist eines klar: Kein polizeiliches oder geheimdienstliches Maßnahmenpaket kann solche Taten sicher verhindern. Migrations- und Abschiebedebatten, wie sie auch Donald Trump in den USA jetzt wieder angestoßen hat, erst recht nicht.

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Bernd Pickert
Auslandsredakteur
Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. Bluesky: @berndpickert.bsky.social In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org
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8 Kommentare

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  • Vermutlich hätte der Anschlag Magdeburg verhindert werden können, der Mann war ja mehrfach aufgefallen. Bereits die Approbation war seltsam. Wer bedroht schon die Leitung der Prüfungskommission und das im Falle eines Facharztes für Psychologie? Der Mann hätte als Psychologe mit eindeutig mangelnder Impulskontrolle gar keine Approbation bekommen dürfen. Dazu kamen die weiteren Meldungen von Menschen aus dem In- und Ausland, die mit ihm zu tun hatten. Die Behörden haben nicht reagiert. Es gab vor Gericht verhandelte Vorgänge und trotzdem keine Konsequenzen. Das ist zumindest irritierend.

  • Internet abschalten! Weltweit! Sofort!

    Es reicht!!!

  • "Das ergibt alles keinen Sinn – passt aber in unsere Zeit. Denn es ist zu befürchten, dass es immer mehr Menschen geben wird, die sich getrieben sehen, ein Fanal zu setzen."



    Früher gab es solche Fanale auch, u.a. von Sekten, mit verheerenden Folgen, nicht immer als Selbsttötungen, sondern auch als vermeintliche Gemeinschaftstat im Sinne einer Analogie sog. erweiterter Suizide:



    www.spiegel.de/pan...morde-a-69598.html



    Auch wissenschaftlich ist der Themenkomplex in der Vergangenheit selbstverständlich nicht gänzlich unbeachtet geblieben.



    Hierzu:



    "In der Art und Weise, wie das Leiden und Sterben des Akteurs durch die Hinterbliebenen bewertet wird, ist der Protestsuizid mit dem Phänomen des Martyriums verwandt und kann daher als Form des ‚politischen Martyriums‘ bezeichnet werden. Dies trifft insbesondere auch auf die Bedeutung des Verstorbenen für das ‚boundary work‘ von Gemeinschaften sowie auf die ambivalente Stellung des Opfers zwischen ‚victima‘ und ‚sacrificium‘ zu, sodass die Akteure des Protestsuizids analog zur Figur des Märtyrers untersucht und beschrieben werden können."



    Quelle



    freidok.uni-freiburg.de/data/154833

  • "Kein polizeiliches Maßnahmenpaket kann solche Taten sicher verhindern" - eben doch! Wobei die Betonung auf "solche" Taten in Deutschland liegt und auch der Massenmord vom Berliner Weihnachtsmarkt in dieses Muster passt: Der Staatsapparat hatte in beiden Fällen alle Informationen und Möglichkeiten, die Anschläge zu verhindern - er tat es nicht. Vorrangig wären natürlich ursächliche und nicht nur symptomatische Maßnahmen der herrschenden Politik erforderlich, die sind hierzulande aber auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

  • „ Denn das Gefühl, dass die Welt auf den Abgrund zusteuert, hat sich verallgemeinert – interessanterweise vor allem im Globalen Norden, allgemein „Westen“ genannt.“



    während der globale Norden (na, bitte etwas genauer, die Ukraine zum Beispiel tut niemandem etwas, RU schon) in allen Teilen der Welt Kriege führt oder führen lässt, Bomben und Gerät hierfür exportiert, setzt nun ein Gefühl ein, dass man auf einen Abgrund zusteuert. Ich kann nicht in wenigen Worten beschreiben was mir alles an Gedanken kommt. Ich hasse Terror, Ich verachte diese Taten. Ich fühle eine Verachtung aber auch für Gesellschaften, die so wenig Empathie für Menschen in anderen Teilen der Welt empfinden, dass sie erst wach werden, wenn bei ihnen unschuldige gute Menschen wie du und ich sterben. Ich bin gerade weniger als tausend Kilometer von einem Krieg entfernt, in dem bei weitem nicht „nur“ Kombatanten verschiedener Seiten sterben. Dort, und bei allen Menschen die Bezug zu den verschiedenen Menschen dort haben, bei vielen Familien, ist die heile Welt schon lange untergegangen. Wacht auf, jammert nicht rum, tut Gutes, verbreitet keinen Hass und keine miese Stimmung. Beides nutzt niemandem.

  • Sind wir jetzt wieder soweit dass wie Ostdeutschland und Westdeutschland sagen? Hätte der Anschlag von Magdeburg in den alten Bundesländern stattgefunden, wäre im ersten Satz bestimmt von der USA und Deutschland die Rede. Aber vielleicht irre ich mich auch und der Ahätte Westdeutschland geschrieben...

    • @Müller Christian:

      Das hab ich auch gedacht - beim heutigen Schlagwort-Lesen entsteht mit der Überschrift der Eindruck, dass Ostdeutsche prädestiniert für selbstermächtigte Fanalsetzungen sind.

  • Fanal setzen, Ausrufezeichen setzen, Exempel statuieren: Fast immer an Unbeteiligten, an Schwächeren, an als minderwertig Markierten.



    Immer für ein paar Tage in den Medien, immer nutzlos.