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Missbrauch im Turnen„Wir müssen endlich gehört werden“

Die ehemalige deutsche Turnerin Tabea Alt berichtet von einem System des „körperlichen und mentalen Missbrauchs“ und wirft dem DTB Untätigkeit vor.

Tabea Alt im Einsatz für dem MTV Stuttgart im Jahr 2017 Foto: Pressefoto Baumann/imago

Konkrete Informationen zu „möglichem Fehlverhalten“ von Trainern am Bundesstützpunkt Stuttgart lägen vor, schrieb der Deutsche Turner-Bund. Eine Untersuchung, so wurde angekündigt, solle eingeleitet werden, „externe Unterstützung“ hinzugezogen werden. Der Aktivismus zwischen den Feiertagen hat einen Grund, der allerdings eine Weile zurückliegt. Der DTB antwortete auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur, nachdem die ehemalige Turnerin Tabea Alt mit einem Post auf Instagram am Samstag für Wirbel gesorgt hatte.

Die 24-Jährige einstige WM-Bronze-Gewinnerin am Schwebebalken (2017) berichtete, sie habe schon vor drei Jahren, als sie verletzungsbedingt frühzeitig ihre Karriere beenden musste, einen ausführlichen Brief an ihren Heimtrainer, die Bundestrainerin, den DTB-Präsidenten, den Teamarzt und weitere Verantwortliche geschrieben. Sie habe die Missstände in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen thematisiert und „Lösungsvorschläge“ unterbreitet, wie junge Turnerinnen und Turner besser geschützt werden könnten.

Ihr Schreiben sei „ignoriert oder einfach nicht ernst genommen“ worden. Im Rückblick auf ihre Karriere schildert sie: „In all diesen Jahren hat man meine Gesundheit ganz gezielt aufs Spiel gesetzt, indem man ärztliche Vorgaben missachtete und mich selbst mit mehreren Frakturen (Knochenbrüchen) turnen ließ und in den Wettkampf schickte.“

Ihre Erfahrungen seien jedoch kein Einzelfall. „Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Heute weiß ich, es war systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch. Wir müssen endlich gehört werden!“ Es gehe um den Schutz „der wohl schönsten Sportart der Welt“.

Späte Reaktion

Die Probleme, betonte Alt, habe sie erst einmal intern angesprochen, „da die Öffentlichkeit oft zu wenig Hintergrundwissen hat, um fair zu urteilen oder richtige Schlüsse zu ziehen“. Erst die Untätigkeit der Verantwortlichen beförderte ihren Gang an die Öffentlichkeit. Der DTB teilte nun am Wochenende mit, bei den nun angekündigten Untersuchungen würden auch mögliche Fehler im Leistungssportsystem an Bundesstützpunkten sowie der Umgang mit möglichen Hinweisen innerhalb der Verbandsstrukturen des Schwäbischen Turnerbund (STB) und DTB in Augenschein genommen werden.

Die verspätete Reaktion des DTB erstaunt umso mehr, nachdem der Verband bereits bei massiven Vorwürfen am Bundesstützpunkt in Chemnitz zuerst eine schlechte Figur gemacht hatte. Dort wurden der Trainerin Gabriele Frehse Training trotz Schmerzen, Erniedrigungen und Diätzwang vorgehalten. Der DTB hatte 2018 bereits Hinweise erhalten, dass es Probleme mit der Chemnitzer Trainerin gab, und keine effektiven Maßnahmen ergriffen. 2020 gingen dann sechs Turnerinnen an die Öffentlichkeit.

Nach den Ergebnissen der unabhängigen Untersuchungsberichte entschuldigte sich der DTB bei den Betroffenen für das entstandene Leid und stellte fest, es bestehe „struktureller Veränderungsbedarf“. Es bedürfe „effektiverer Strukturen zum Schutz vor Gewalt im Leistungssport“. Die lokalen Vorfälle in Chemnitz wurden zwar gründlich aufgearbeitet und beim DTB eine Dreiviertelstelle geschaffen, um die Verstetigung des „Leistung mit Respekt“-Projekts zu fördern, doch von einem bundesweiten Missbrauchsschutz scheint man, wie etwa die Schilderungen von Tabea Alt zeigen, weit entfernt zu sein.

Wenige Tage vor Weihnachten hatte schon Emelie Petz, 21, die ebenfalls beim MTV Stuttgart trainierte und verletzungsbedingt frühzeitig ihre Karriere beendete, von jahrelangen Essstörungen und Selbstzweifeln berichtet.

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