: Vom Leben genährt
Ausprobieren, was möglich ist – das hat die Schriftstellerin Ingeborg Middendorf immer getan. Sie blickt zurück auf viele Jahre voller Hingabe
Von Ambros Waibel (Text) und Stefanie Loos (Fotos)
Orte und Zeiten verwischen in einem wilden Leben. Wie bei Ingeborg Middendorf.
Draußen: Berlin-Friedenau – das Viertel heißt so, weil es dem Frieden gewidmet wurde, nach dem Ende eines längst vergessenen Krieges. Friedenau ist auch ein Dichterviertel. Hier haben Günter Grass, Uwe Johnson, Max Frisch gelebt. Wie heute Herta Müller. Und Ingeborg Middendorf auch.
Drinnen: Sie wohnt im Hochparterre, drei Zimmer, Küche, Bad, zwei Balkone. Die Einrichtung ist eine Mischung aus neu und antik, eine Heimstatt für Poesie auf dem Apple und Musik auf dem jeden Tag bespielten Klavier. „Ich bin ein nervöser Mensch, keiner, der sich irgendwo hinsetzen und schlafen kann“, sagt Middendorf mit norddeutschem Tonfall.
Ankunft: 1972 kam sie mit ihrem Freund Henning Brockhaus nach Westberlin. Zuvor hatte sie in Bonn und Göttingen studiert, Germanistik und Philosophie, nach vier Semestern abgebrochen und dann in Köln 1967 die erste Staatsprüfung als Lehrerin abgelegt. Abschlussarbeit war eine Interpretation des „Zauberberg“ von Thomas Mann. 1978 dann, endlich, das ersehnte Kind: Julian.
Hippie: In Köln traf sie im Germanistikseminar den Bürgerschreck Rolf Dieter Brinkmann wieder, den bedeutendsten Dichter der BRD, den sie aus ihrer Jugend in Vechta kannte. Der literarische Provokateur Brinkmann verstörte mit seiner Radikalität und rüttelte auf. Eine aufregende Zeit begann für Middendorf, eine Hippie- und Bohemezeit, die auch ein Jahr Drogenerfahrung einschloss. Schließlich dann doch Lehrerin, zweites Staatsexamen, Verbeamtung auf Lebenszeit. Diese kündigt sie dann später wieder und erlangt sie erst nach Jahren zurück – die Voraussetzung, selbständig zu sein.
In Vechta: Wie sie sei, habe viel mit ihrer großbürgerlichen Herkunft zu tun, sagt Middendorf. Geboren und aufgewachsen in einer Jugendstilvilla in Vechta mit Park, Obstgarten, Wiese bis zum Tennisplatz, und mit Eltern, die schwer traumatisiert waren. Der Vater, Großkaufmann, NS-Kreiswirtschaftsleiter im Krieg und seine zarte Frau, die eigentlich Nonne werden wollte. Über Krieg und Holocaust wurde nie gesprochen. „Wenn ich heute in die Stadt komme, sehe ich überall die Stolpersteine.“ Nach dem Krieg wird der Vater interniert und enteignet, schließlich entnazifiziert. In die Villa zieht vorübergehend die britische Besatzungsmacht ein. Die Mutter lebt mit ihren beiden Kindern im hergerichteten Hühnerstall im Obstgarten. „Den hab ich geliebt, da hatte ich meine Mutter für mich alleine. Eine glückliche Zeit trotz der kalten Winter, in denen wir die Füße auf im Ofen aufgeheizte Ziegelsteine legten und Brotsuppe aßen.“ Dann kommt der Vater wieder, er erhält seinen Besitz zurück, Bedrückung und Schweigen ziehen ein in das große Haus.
Brinkmann: „Er war der Klassenkamerad meines ersten Freundes. Ich sah ihn immer die große Straße runter laufen. Man spürte schon von Weitem seine Aura.“ Als Middendorf 15 ist, führt eine Theatergruppe der Oberschulen in Vechta das Stück von Wolfgang Borchert auf: „Draußen vor der Tür“. Rolf spielt die Hauptrolle und schreit die Sätze in den Saal des Metropoltheaters: „Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ – „Und wir erstarrten. Unsere Frage, von der wir gar nicht wussten, dass wir sie hatten.“
Trauma: „Es lag eine tiefe Traurigkeit über der großen Villa. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern gar nicht richtig da sind. Ich wollte ihnen immer Freude machen, vor allem meiner Mutter.“ Deswegen habe sie gemalt und gebastelt, gesungen und Klavier gespielt. Aber lustig sei es nur mit dem Dienstmädchen gewesen. Als sie Abitur macht, wird bei ihrem Vater Krebs diagnostiziert. Ein Jahr später stirbt er, ihre Mutter bleibt allein. „Wir Kinder waren aus dem Hause. Sie hat das Finanzielle aus der Hand gegeben und sich betäubt. Nicht tagsüber, sondern nachts. Bei Besuchen hab ich ganz oben im Mädchenzimmer geschlafen, um das nicht mitzukriegen.“ In dieser Zeit überkommt Ingeborg Middendof eine schreckliche Lebensangst: „Ich kann ja nichts! Ich hab Abitur, aber von nichts ’ne Ahnung! Ich weiß gar nicht, wie man lebt, worum es überhaupt geht.“ Zum Glück habe die Mutter ihren Weg in die Autonomie unterstützt, „dass ich studieren konnte, lernen“. Und schreiben.
Schreiben: Ihren ersten Text schickt Ingeborg Middendorf als Schülerin im katholischen Sacré-Coeur-Internat ans Hamburger Abendblatt. Sie bekommt eine freundliche Antwort. Da stecke was drin, aber sie solle mal Proust lesen und Brecht. Heute zögert sie auf die Frage, ob sie mit ihrer Karriere als Schriftstellerin zufrieden ist. „Ich hätte nie jemand sein können, der alle zwei Jahre ein neues Buch herausbringt.“ Im Klappentext des ersten Gedichtbandes von 1978 schreibt sie: „Die Erfahrung von Trennung durch Bruch oder Tod – der Gedanke an Vergeblichkeit und Einsamkeit des Lebens haben mich immer wieder in die Panik des Nichts gestoßen. Mein Schreiben ist der Versuch, dieser Panik zu entkommen. Darum geht es mir, nicht um die finanzielle Existenz.“
Geld: „Es ist ja nicht so, dass ich arm bin. Aber ich wusste nie, was mein Vater besitzt, das sollte ich auch nicht wissen.“ So wie ihre Mutter sei Middendorf in Unkenntnis gehalten worden. Als dann der Patriarch nicht mehr da war, sei sehr viel über den Deister gegangen – eine hannoversche Redewendung für verschwinden. „Ich bin jedenfalls die Einzige in der Familie, die zur Miete wohnt. Zu Hause bin ich nicht mit Geld in Berührung gekommen. Es war alles da, wurde alles gemacht. Die Realität fehlte.“
Körper: Middendorf kommt aus einem katholischen Elternhaus, ging auf eine Nonnenschule. „Körper war da etwas Böses, was man verstecken musste, etwas Gefährliches – gefallene Mädchen. Sexualität gab es nicht, außer in einer Ehe und dann auch nur zum Kinderkriegen. Aufklärung null.“ Mit den 1960er-Jahren sei endlich Luft an die Haut und in den Kopf gekommen: Free your ass, your mind will follow! Make love – not war! „Die Hippiebewegung war schön und ich war mittendrin. Mich hat das angezogen, was sich lebendig anfühlte.“ Sie lernt Männer kennen, einige werden später berühmt: in Göttingen Burkhard Driest; in Berlin Hanns Zischler, der auch Julians Vater ist; Jörg Fauser. „Vielleicht war ich eine Weile eine Art It-Girl.“ Sie habe, meint Middendorf, sich Männer gesucht, die ihrem Vater glichen: leistungsstark, geheimnisvoll, verhalten in ihren Gefühlen. „Das ist für eine Frau nicht erfüllend und bringt sie in Bedrängnis. Man kann von diesen Männern auch lernen, aber das Herz hungert.“
Hingabe: Geld verdient sie damals auch als Aktmodel. „Sonst lebte man von Luft und Liebe. Ich habe mich in Uli Karp, einen attraktiven Fixer verliebt und ein Jahr lang Hingabe gelebt.“ Die Trennung ist unausweichlich. Später seien Drogen nie mehr ein Thema gewesen. „Ich bin Asketin.“ In Berlin habe sie Jahrzehnte später die Tantriker kennengelernt, Workshops besucht und sich zur Masseurin ausbilden lassen. „Berührung jenseits von Druck.“ Eine wirklich starke körperliche Erfahrung aber sei die Schwangerschaft und Geburt gewesen: „totale Hingabe“.
Julian: „Luisa hatte nur einmal in ihrem Erwachsenenleben aus vollem Herzen Ja gesagt. Das war vor dreißig Jahren, als sie schwanger war und den kräftigen Herzton ihres Kindes in der Arztpraxis gehört hatte. Da hatte sie JA gesagt zu dem werdenden Kind.“ So schreibt Ingeborg Middendorf in dem Buch: „Der Schatten seines Lächelns“. Luisa, das ist sie. Julian stirbt 2013 an Krebs. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, das größte Geschenk und der tiefste Schmerz. 2020 schreibt sie ein Buch über sein Leben. „Im Schreiben war er da, ich konnte seine Nähe spüren, seine Stimme hören, sein Lachen. Ich konnte die Bilder in mir ordnen, seinem Weg nachspüren und seinem Leben die Schönheit geben, die es trotz allem gehabt hatte.“
Was kommt: „Aber tot bin ich nicht“ heißt ihr neuer Gedichtband, der Ende 2024 erschien, eine Art Werkschau und ein Versprechen. „Nach einer üppigen Mahlzeit kommt das Dessert.“ Einige Menschen werden nicht mehr dabei sein, bei dem Fest, und Ingeborg Middendorf ist jetzt eine ältere Dame. Und eine Dichterin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen