taz-adventskalender „24 stunden“: 16 Uhr am Kotti
Das Kottbusser Tor ist ein Mikrokosmos der Migrationsgesellschaft: chaotisch, lebendig, widersprüchlich, voller Geschichten. Am späten Nachmittag ersammeln sich unter der U-Bahn am Kreisel Tauben, als würden sie die Szenerie beobachten. Die Mevlana-Moschee wacht mit ihrer schlichten Minarettspitze über das bunte Treiben, während die Menschen ihrer Routine nachgehen.
Neben dem legendären Café Kotti befindet sich im ersten Stock des Neuen Kreuzberger Zentrums über der Adalbertstraße seit 2023 eine Polizeiwache. Die Anwesenheit der Polizei scheint für das Café kein Problem zu sein; im Gegenteil, es wirkt, als hätte sich hier eine entspannte Nachbarschaft entwickelt. Eine Dame erzählt, sie fühle sich sogar sicherer. Auf dem Markt unten am Platz verkauft der Obststand seit Jahren frische Früchte zu unveränderten Preisen. Der „Saftladen“ hingegen ist teurer geworden – ein Aufregerthema im Kiez. Aber es lohnt sich: Der Ingwer-Orangensaft ist zu dieser Jahreszeit eine notwendige Vitaminbombe, sagt eine Frau zu einer anderen.
Die beiden unterhalten sich auf Türkisch über den neuen Streetfood-Laden, der inzwischen gar nicht mehr so neu ist. Pilav Tavuk, Reis mit Hühnchen, wird dort serviert. Doch eine der Frauen schwört weiterhin auf den Köfteladen in der Reichenberger Straße. „Nichts kann Izmir Köfte toppen“, sagt sie. Das Gespräch endet mit einem: „Ach, ich koche am liebsten selbst, da weiß ich, was drin ist, und es ist günstiger.“ Die beiden sind sich einig.
Im besagten Köfteladen prangert der Verkäufer die Dealer an, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihr Geschäft betreiben. Die seien laut und würden die Kund:innen vertreiben. Und die Polizei? „Die machen nur Chaos“, klagt er, zwischen Aufträgen hin und her eilend. Immerhin würden sie auch ab und an bei ihm Köfte kaufen.
Am Nebentisch diskutiert ein junges Pärchen auf Deutsch-Türkisch darüber, ob sie einen Weihnachtsbaum kaufen sollen oder nicht. Die Frau sorgt sich darum, wie ihre Eltern das finden könnten. „Vielleicht nennen wir ihn einfach Neujahrsbaum“, schlägt sie vor. Geschenke will sie viele – am liebsten auch Tiere. Eine Katze oder auch einen Hund: „Aşkım, das wäre so süß, oder?“ Ihr Partner fragt trocken: „Elif, willst du auch noch einen Esel haben? Lass uns gleich einen Bauernhof kaufen.“ Er mache sich vielmehr Sorgen darüber, wie sie weiterhin die Wohnung bezahlen sollen und die Hochzeit stehe ja auch noch an.
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 16 Uhr
Kurz vor fünf wird es dunkel und die Atmosphäre am Platz ändert sich spürbar. Steigende Mieten, neue Läden und ein anderes Publikum haben in den letzten Jahren das Bild vom Kotti verändert. Doch das Viertel, einst zentraler Anlaufpunkt für Künstler:innen, Hausbesetzer:innen und Gastarbeiterfamilien insbesondere aus der Türkei, erzählt bis heute von seiner Einwanderungsgeschichte.
Die Moschee, die türkischen Schilder, die Gerüche von Gewürzen und frisch gebratenem Fleisch – all das spricht von den Wurzeln, die hier geschlagen wurden. Nicht umsonst wird dieser Teil Kreuzbergs Klein Istanbul genannt. Wenn die Straßenlaternen die Szene in warmes Licht tauchen, wird das Kottbusser Tor zu einem Ort, an dem sich die Geschichten der Vergangenheit und Gegenwart überlagern – ein Kaleidoskop der Vielfalt.Derya Türkmen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen