: Die verbotenenBücher
In Russland verschwindet Literatur aus den Läden, kommt in „Sonderlager“ oder wird getarnt verkauft. Bücher sind zum Thermometer geworden, um den Grad der Absurdität zu messen
Aus Moskau Inna Hartwich
Null. Null. Null. Und noch eine, noch eine, noch eine. Alles voller Nullen, von Seite eins bis Seite neun, die die Verkäuferin im Moskauer Buchladen „Dom knigi“ (Haus des Buches) am Rechner des Buchbestandes aufmacht. Es ist die größte Buchhandlung Moskaus an der Prachtmeile Neuer Arbat mit Häusern in Buchform unweit des Kremls. Einst waren hier gleich mehrere Regale mit Büchern von Ljudmila Ulitzkaja, dieser klarsichtigen Grande Dame der russischen Literatur, ausgefüllt.
Ulitzkaja, die kennt jede und jeder in Russland. Irgendein Titel ihres großen Werkes ist ihnen mindestens einmal über den Weg gehuscht, „Sonetschka“, „Medeas Kinder“, „Daniel Stein“, „Das grüne Zelt“, „Jakobsleiter“. Und nicht nur in Russland. Auch in Deutschland, wo die 81-Jährige seit März 2022 im Exil lebt, weil ihre Söhne befanden, die Mutter könne aufgrund ihrer Kritik am Putin-Regime nicht länger im Moskauer Zuhause bleiben, ist sie keine Unbekannte. „Aber natürlich haben wir Ulitzkaja da, das ist nicht möglich, dass kein einziges Buch von ihr in irgendeinem Regal steht“, sagt die junge Verkäuferin im Dom knigi und schaut mehrere Minuten auf den Ladencomputer. „Kann nicht sein. Kann nicht sein“, murmelt sie vor den zahlreichen Nullen in Rot vor sich.
Die Realität in Russland zeigt seit Monaten, ja seit Jahren, was alles sein kann auf dem heimischen Buchmarkt: Bücher verschwinden aus den Läden, sie kommen in „Sonderlager“ von Bibliotheken und werden mit dem sogenannten „Status 5“ versehen, also zu Büchern, die nicht an die Leser*innen ausgegeben werden dürfen. Die Menschen überlegen sich zweimal, welches Buch sie in der Metro aufschlagen, welches Buch sie über die Grenze mitnehmen. Was ist erlaubt? Was schon gefährlich? Murakami? Rowling? Yanagihara? Sorokin? Limonow? Jachina? „Hier“, sagt so manche Bibliothekarin im Land, „hier ist das von Ihnen angeforderte Buch von Dmitri Bykow. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie hiermit das Buch eines ,ausländischen Agenten‘ erhalten.“
In manchen Büchereien ist nicht einmal das möglich, da Bykows Bücher, diese oft humorvoll parodierenden Romane und Gedichte, aus dem Verkehr gezogen wurden.
Es kursieren Listen mit verbotenen Büchern, aufgestellt von Buchhändler*innen und Versandhäusern aus vorauseilendem Gehorsam. Jedes Mal, wenn eine solche Liste – mit in- und ausländischen Autor*innen – auftaucht, beeilt sich eine russische Behörde mitzuteilen, es gebe gar keine solche Liste. Aber weiß man’s? Niemandem ist wirklich klar, was verboten ist, und doch meinen alle zu wissen, was im Verborgenen bleiben sollte. Jede und jeder hat auf die eigene Weise Angst: denunziert und bestraft zu werden, sich zu rechtfertigen, als Feind des eigenen Landes abgestempelt zu sein. Bücher sind längst zum Thermometer geworden, um den Grad der Absurdität im Land zu messen.
Es ist eine Zwischenwelt, in der Anwälte die Gefahr von Worten prüfen, in der Metaphern die Wirklichkeit beschreiben und doch so viele Lücken bleiben. Die Menschen, vor allem die Älteren, kennen das alles, sie können bestens zwischen den Zeilen lesen, sie hatten das zu Sowjetzeiten jahrzehntelang geübt. Sie haben mit Tamisdatund Samisdat gelebt, dem „Dortverlag“ und dem „Selbstverlag“. Büchern also, die von sowjetischen Autor*innen geschrieben, aber im Westen gedruckt wurden, und Büchern, die meist von der Sowjetunion verboten, auf inoffiziellen Kanälen jedoch verbreitet wurden – indem die Menschen sie einfach mit der Hand oder der Schreibmaschine abschrieben oder sonstwie vervielfältigten. Und somit unter großen Risiken in Umlauf brachten.
Tamisdatist längst wieder Alltag in Russland. Bücher von russischen Autor*innen werden seit 2022, der russischen Invasion in der Ukraine und Russlands Kampf gegen „Feinde im Innern“, im Ausland gedruckt. Die Biografie des im Straflager umgekommenen russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny etwa erschien auch auf Russisch im Westen. In Russland ist das Buch verboten wie etliche andere Bücher von russischen Journalist*innen, Politolog*innen, Schriftsteller*innen, die teils bis vor wenigen Jahren mit staatlichen Prämien geschmückt wurden.
Die jüngeren Autor*innen im Land lernen die literarische Gängelung nach und nach kennen. So manche wählt für das Wort „Krieg“ das Wort „Winter“ zum Beispiel und kann so, ohne im Exil zu sein, Bücher in Russland veröffentlichen, mit Beratung durch etliche Anwälte zwar und ein paar Hinweisen, dieses oder jenes vielleicht doch etwas anders auszudrücken, zu verfremden, gar nicht erst zu schreiben – aber es findet sich eine Nische. Zensur hin oder her. Oder Selbstzensur, was oft als noch schlimmer empfunden wird. Es ist ein stetiges Ringen auch mit sich selbst, der Zwiespalt zwischen Angst und Nicht-Schweigen, der tägliche Blick in den Spiegel und die eigene Erkenntnis zuweilen, dass einem vor sich selbst übel wird. Weil es das eigene Ich ist, das den Hals zudrückt und die Luft zum Atmen nimmt. Wo den Mut hernehmen, wie die Angst überwinden, wenn dieser alltägliche Kampf so viel Kraft raubt?
Und doch, Widerstand ist möglich, mehr, als viele zunächst denken. Sie wundern sich, sie trauen sich und sind doch unsicher. Was, wenn eine Bibliothekarin das Buch des bekannten und allseits beliebten Krimi-Autors Boris Akunin ausgibt, den der Staat zum „Extremisten“ erklärt hat und seine Bücher nicht mehr zu kaufen sind? Was, wenn ein Buchladen Wladimir Sorokin im Sortiment führt, wie es das „Buchlabyrinth“ im glitzernden Finanzdistrikt Moscow City tut? Etliche seiner Bücher sind hier aufgereiht, nur „Das Erbe“ nicht, weil Sorokins Moskauer Verlag sich dem Druck des Innenministeriums nicht widersetzen konnte und diesen letzten Teil seiner Trilogie über die dystopische Zukunft Russlands voller Gewaltexzesse nach 20.000 verkauften Exemplaren doch aus dem Verkauf nehmen musste.
Auch Ulitzkajas Werk findet sich noch in Moskau. Nicht im Buchlabyrinth, aber im Einkaufszentrum „Der Europäische“ am Kiewer Bahnhof unweit des russischen Außenministeriums. Im Laden „Tschitai Gorod“ (Lesestadt) stehen im „Prosa“-Regal acht ihrer Bücher, kein Hinweis „18+“, auch kein Aufkleber „ausländischer Agent“. Früher fanden sich hier auch Texte des russischen Journalisten Michail Zygar, der mit Titeln wie „Das Imperium muss sterben“ über Russlands Geschichte schreibt, und von Michail Fischman, der eine Biografie des russischen Politikers Boris Nemzow, 2015 unweit des Kremls erschossen, veröffentlicht hatte. Das russische Regime erklärte auch sie zu „ausländischen Agenten“, nach und nach verschwanden ihre Bücher aus den Ladenregalen.
Ein neu geschaffenes „Expertenzentrum“, angesiedelt bei der Russischen Bücherunion, soll Werke auf „einen möglichen destruktiven Inhalt“ überprüfen. Wer genau diese Expert*innen sind? Bekannt ist nur, dass es Vertreter*innen der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor, der offiziösen Russischen Geschichtsgesellschaft und der Russisch-Orthodoxen Kirche sein sollen – und was genau sie machen, ist nicht ganz klar. Das Verbieten, Beschlagnahmen und Vergessen funktioniert jedoch ähnlich wie beim sowjetischen Glawlit, der obersten Zensureinrichtung des Landes bis 1989. Alle sollten „gleich und richtig“ denken. Was „richtig“ ist, meint der Staat zu wissen. Die Menschen winden sich durch Einschränkungen, Auflagen, Repressionen hindurch. Über allem und allen im Land schwebt die Ungewissheit. Vielleicht wird diese Auflage ja doch eingestampft, vielleicht wird jener Verlag verklagt. „LGBT-Propaganda“, „Ausländischer Agent“, „Extremist“, „Terrorist“, „Rechtfertigung des Nazismus“, „Russophobie“, es gibt etliche Vorwürfe, denen Autor*innen ausgesetzt sind, am Ende kann darunter so ziemlich alles fallen.
„Was hat denn Ulitzkaja falsch gemacht?“, fragt die Verkäuferin im Dom knigi, immer noch ungläubig, dass kein einziges Buch der Autorin in ihrem Laden zu finden ist. „Sie hat doch nur Romane geschrieben. Tolle Romane!“ Die Frau seufzt. „Bücher von Dmitry Glukhovsky haben wir auch nicht da? Auch nicht von Wiktor Schenderowitsch? Aber George Orwells ‚1984‘ haben wir zuhauf, in ganz unterschiedlichen Ausgaben“, sagt sie, sichtlich erfreut. Die Antiutopie des Briten ist seit 2022 – neben Erich Maria Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ – das am meisten verkaufte Buch im Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen