: Rentiere, Starlink und zu viel Wodka
In der Mongolei leben einige der letzten verbliebenen Rentiernomaden. Ihre Kultur war in der Vergangenheit immer wieder vom Aussterben gefährdet, heute ist ihre Lebensform auf ganz andere Art und Weise bedroht. Über Nomadentum zwischen Tradition und Modernisierung
Aus Tsagaannuur Sabina Zollner (Text und Fotos)
Das Camp der Nomaden wirkt wie ein Ort aus einer anderen Zeit: Zwischen Tannen stehen und liegen unzählige Rentiere, die immer wieder lautstarke Grunzer von sich geben. Der Waldboden ist mit kleinen weißen Schneeinseln bedeckt, die in der Herbstsonne glitzern. Zwischen den Rentieren sind fünf Tipis zu sehen, aus denen kleine Rauchwolken in den Himmel steigen. Vor einem der Tipis sind Otgonjargal Munkhuu und Sansar Ganbat gerade dabei, ihr Hab und Gut zu sortieren. Auf dem Boden liegen Decken, Gummistiefel, Kochutensilien und andere Taschen. Daneben warten zwei gesattelte Pferde darauf, geritten zu werden.
„Die Rentierwanderung ist eines der Dinge, die ich am meisten liebe“, sagt Otgonjargal. Sie trägt eine pinke Funktionsjacke und hellblaue Gummistiefel, ihre langen braunen Haare sind mit einer silbernen Spange festgemacht. Einen Monat lang werden die Nomaden alle paar Tage ihren Standort wechseln. Um für den Winter vorzusorgen, müssen die Rentiere im Herbst so viel Fressen wie möglich bekommen. Die Nomaden ziehen deshalb von einem Camp zum nächsten, auf der Suche nach Wiesen mit ausreichend Moos und Flechten für ihre Tiere. Bis zu zehn Mal pro Jahr wechseln die Nomaden ihren Standort – es ist ein Leben in Bewegung.
Das Ehepaar Otgonjargal und Sansar sind zwei von etwa 200 verbliebenen Tsaatan-Nomaden im Nordwesten der Mongolei, die dort mit circa 1.500 Rentieren leben. Beide sind hier aufgewachsen, sie haben die Taiga nur verlassen, um im nahegelegenen 2.000-Einwohner-Ort Tsagaannuur zur Schule zu gehen. Seit Jahrtausenden leben die Nomaden in der Taiga, ihre indigene Kultur war immer wieder vom Aussterben bedroht. Dank Unterstützung von außen konnte ihre Lebensweise gerettet werden.
Wie leben die Nomaden im 21. Jahrhundert? Und wird ihre Lebensform in Zeiten der Modernisierung weiter bestehen können?
„Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen“, erzählt Otgonjargal wenige Tage zuvor in Tsagaannuur. In einer kleinen Holzhütte schneidet sie gerade einen beigefarbenen Block in kleine Scheiben. Es ist getrockneter Rentierkäse. Sonst machen die Nomaden aus der Rentiermilch auch Butter und Joghurt. Die 38-Jährige ist für ein paar Tage im Ort, weil diese Woche für ihre achtjährige Tochter die Schule angefangen hat. Sie wird aber nicht lange bleiben, da sie für die Migration zurück ins Camp will. Ihre Großmutter übernimmt dann die Betreuung ihrer Tochter. In Tsagaannuur weiß Otgonjargal immer nicht so recht, was sie mit sich anfangen soll. „Hier mache ich nur klassische Haushaltsaufgaben, das ist nicht so meins“, sagt sie. In der Taiga kann sie sich um die Rentiere kümmern, sie melken, anbinden, Milchprodukte herstellen. Das erfüllt sie sehr viel mehr, die Tage vergehen dort schneller.
Die Tsaatan gehören zu der ethnischen Gruppe der Tuwa, die in Sibirien und im Nordwesten der Mongolei leben. Die Mongolei wurde bis 1990 kommunistisch regiert. Die Herden der Nomaden waren damals Staatseigentum; die Hirten bekamen lediglich finanzielle Unterstützung für ihre Hütung. Viele der erwerbsfähigen Männer wurden gezwungen, in der Fischzucht oder in Fabriken zu arbeiten, was einen sesshaften Lebensstil beförderte. Mit dem Ende des Kommunismus in den 1990er Jahren konnten die Nomaden ihren Lebensstil zwar wieder freier verfolgen, doch das Wegbrechen finanzieller Hilfen und eine hohe Arbeitslosigkeit führten dazu, dass viele ihre Rentiere schlachten und verkaufen mussten. Erst durch den Tourismus ab den 90er Jahren, internationaler sowie nationaler finanzieller Unterstützung konnte sich der Rentierbestand in den letzten Jahrzehnten erholen.
„Früher hatten wir von allem zu wenig“, sagt auch Otgonjargal. Es fehlte an Mehl, Reis und Fleisch, sie erinnert sich an kalte Füße im Winter. Sie weiß aber nicht mehr, ob die Winter früher kälter waren oder sie damals noch keine richtigen Schuhe hatten, erzählt sie schmunzelnd. Jetzt haben sie von allem genug. Seit April haben die Nomaden im Osten der Taiga sogar eine Internetverbindung per Starlink, Elon Musks Satellitennetzwerk. Das dafür nötige Gerät war ein Geschenk einer Lokalpolitikerin, um die Stimmen der Nomaden für sich zu gewinnen. Mittlerweile besitzen Otgonjargal und ihr Ehemann sogar ein kleines Haus in Tsagaannuur. Das konnten sie sich nur leisten, weil die Tsaatan, die in der Taiga leben, seit 2013 von der Regierung finanziell unterstützt werden. Erwachsene bekommen umgerechnet 130 Euro im Monat, Kinder 70 Euro. Das ist nicht besonders viel, das durchschnittliche Einkommen in der Mongolei liegt bei circa 530 Euro im Monat. Trotzdem konnte das Paar über den finanziellen Zuschuss der Regierung über die Jahre Geld sparen und sich das Haus kaufen. Doch der Zuschuss hat seinen Preis, wegen ihm haben die Nomaden auch einen Teil ihrer indigenen Kultur verloren.
Zurück im Camp der Tsaatan: Nach ein paar Stunden herrscht Aufbruchstimmung. Zwischen den Tannen ist Sansar auf einem Pferd zu sehen. In seiner rechten Hand hält er ein Seil, an dem fünf voll bepackte Rentiere laufen. Er trabt mit ihnen Richtung Wald. Ein paar weitere Nomaden sind parallel damit beschäftigt, die im Wald angebundenen Rentiere von den Seilen zu lösen. Hunderte Rentiere setzen sich in Bewegung, ihre Hufe machen ein sanftes, gedämpftes Geräusch auf dem Waldboden. Dicht gefolgt werden sie von mehreren Reitern, die immer wieder „Tschuu, tschuu“ rufen, um die Tiere weiter durch den sumpfigen Wald zu treiben.
Nach einem halbstündigen Ritt erstreckt sich die Weite der Taiga in ihrer gesamten Schönheit. Rechts und links ragen steile Hügelketten mit gelben, orangenen und grünen Tannen in den blauen Himmel. An ihren Spitzen ist erster Schnee zu sehen. Dazwischen ein Tal, eine weitläufige Wiese bedeckt mit braunen Sträuchern. Außer den Nomaden, ihren Rentieren und ein paar anderen Reitern ist nur die Weite der Taiga zu sehen. Auf der linken Seite des Tals traben Hunderte Rentiere, gefolgt von den Reitern, einen steilen Hügel entlang. Auf der rechten Seite trotten die bepackten Rentiere in etwas gemütlicherem Tempo hinterher.
Die Rentierherde zu hüten ist hauptsächlich Aufgabe der Tsaatan-Männer. Sonst besorgen und hacken sie auch das Feuerholz, das zum Kochen und Wärmen der Tipis gebraucht wird. Früher waren sie zudem viel mit Jagen beschäftigt. Aber seit 2013 wurde der Tengis-Shishged National Park, in dem die Nomaden leben, zum Naturschutzgebiet erklärt. Die Nomaden dürfen dort nicht mehr jagen und fischen. Dafür bekommen sie jetzt Geld von der Regierung. Für die Tsaatan war das ein großer Einschnitt in ihre indigene Kultur.
„Mit dem Verbot wurde uns ein Stück Freiheit genommen“, sagt Sansar. Zwar versteht er, dass gefährdete Arten geschützt werden müssen. Aber für ihn ist das Gesetz zu streng ausgelegt. Erst dieses Jahr mussten sie vor dem Gericht erscheinen, weil sie erwischt wurden, wie sie illegal einen Elch jagten. Die Anklage wurde zwar fallen gelassen, aber da die Nomaden vor Ort erscheinen mussten, bedeuten Prozesse wie diese unnötige Kosten, so Sansar. Für Frustration sorgte auch, dass sie bei dem Verbot wenig in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden. „Wir wussten erst, dass ein Jagdverbot existiert, als ein Ranger vor uns stand“, sagt der 39-Jährige. Er würde sich wünschen, dass es ihm wenigstens erlaubt wäre, ein Wildschwein für den Winter zu jagen.
Dass indigene Kulturen im Sinne des Umweltschutzes verdrängt werden, ist ein Phänomen, das sich in der Vergangenheit auch in anderen Teilen der Welt beobachten ließ. Zum Beispiel im Yosemite Nationalpark in Kalifornien: Dort wurden im 19. Jahrhundert, unter dem Vorwand des Naturschutzes, Indigene von weißen Siedlern aus dem Gebiet vertrieben und in ein Reservat zwangsumgesiedelt. In der Mongolei können die Tsaatan zwar weiter in dem Gebiet leben, doch sie haben das Gefühl, dass durch das Jagdverbot etwas in der Natur ins Wanken geraten ist. So beobachten sie in den vergangenen Jahren immer mehr Wölfe, die ihren Rentierbestand gefährden, weil sie die Tiere nachts angreifen.
Die Parkwächter des Nationalparks berichten, dass seit dem Verbot mehr Elche, Luchse und Braunbären beobachtet werden. Und laut einer Studie ist die Anzahl von gefährdeten Arten wie dem Sibirischen Steinbock gestiegen. Aber wie sich nicht gefährdete Arten wie etwa der Wolf entwickelt haben, wird nicht erfasst. Mit dem Jagdverbot wurde zudem eine neue Abhängigkeit geschaffen. Denn um zu überleben, brauchen die Nomaden jetzt auch verarbeitete Lebensmittel wie Mehl, getrocknetes Rindfleisch oder Reis. Viele Tsaatan kritisieren, dass ihre Ernährung durch das Jagdverbot einseitiger wurde, da ihnen wichtige Nährstoffe aus dem Wildfleisch fehlten.
Azjargal Amarsanaa, 33, Tourguide
Nach einem dreistündigen Ritt erreichen die Nomaden ihr neues Camp. Dieses ist direkt an einem Fluss gelegen, an dessen linkem Ufer sich eine hügelige Wiese mit unzähligen Sträuchern erstreckt. Otgonjargal und Sansar haben sich bereits in einem neuen Tipi eingerichtet. Die Tipis sind Holzkonstruktionen aus mehreren Baumstämmen. Wenn die Nomaden weiterziehen, lassen sie die Baumstämme stehen, so müssen sie lediglich Planen auf die Tipis spannen, wenn sie ein neues Camp erreichen. Vor dem Tipi ist Sansar gerade dabei, Holz zu hacken. Otgonjargal treibt die Rentiere die hügelige Wiese hinauf. Die herbstliche Abendsonne färbt das gesamte Camp in ein goldschimmerndes Licht, dahinter erstrecken sich die beruhigenden, weiten Hügelketten der Taiga. Je länger man das Paar in ihrem Alltag beobachtet, desto mehr versteht man, warum sie nur dieses Leben leben wollen.
„Ich möchte in der Taiga alt werden“, sagt Otgonjargal, wenn man sie fragt, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Sansar gibt die gleiche Antwort. Die beiden haben sich in der Taiga kennengelernt, sind gemeinsam dort aufgewachsen. Als Sansar 17 Jahre alt war, hat er Otgonjargal einen Brief geschrieben. Ein Freund von ihm hat ihn ihr damals überreicht. Darin hat er sie gefragt, ob sie mit ihm zusammen sein wolle. Ein Jahr lang hat sie nicht geantwortet. Sie wollte sich Zeit lassen. Dann hat er sie noch mal gefragt. Diesmal sagte sie Ja. Jetzt sind sie fast 20 Jahre zusammen.
Wünschen sich die beiden, dass auch ihre Tochter in der Taiga bleibt? „Ich möchte ihr nichts vorschreiben“, sagt Otgonjargal. Sie selbst hatte nie die Möglichkeit, zu studieren, deshalb will sie ihrer Tochter eine gute Ausbildung ermöglichen. Sie hat zudem das Gefühl, dass sich die mongolische Gesellschaft gerade verändert. Dass immer mehr junge Menschen in die Hauptstadt ziehen, um dort zu studieren und zu arbeiten. Eine halbe Stunde später kommt ihre Tochter zum Gespräch hinzu. Auf die Frage, was sie mal werden will, sagt sie prompt: „Mathelehrerin.“ Und warum? „Weil ich gut drin bin.“
Dass sich Eltern eine gute Ausbildung eher für ihre Töchter als für ihre Söhne wünschen, ist typisch für die Mongolei. Die Söhne hingegen bleiben oftmals auf dem Land, um die körperliche Arbeit zu verrichten. So leben laut dem mongolischen Statistikamt mehr Männer auf dem Land als in der Stadt und Frauen haben insgesamt höhere Bildungsabschlüsse. Das führt mitunter dazu, dass viele Männer auf dem Land keine Ehefrauen finden. Und ist das bei den Tsaatan nicht auch ein Problem? Nein, sagen Otgonjargal und Sansar, es gibt immer noch genug junge Paare in ihrem Stamm, die sich für ein Leben in der Taiga entscheiden.
Am nächsten Tag bereitet Otgonjargal das mongolische Gericht Khoshor in einem der Tipis zu. Das frittierte Brot wird mit Fleisch und Zwiebeln gefüllt. Auf dem Holzofen in der Mitte des Tipis ist eine kleine runde Pfanne, in der heißes Öl brutzelt. Daneben formt eine junge Frau mit flinken Bewegungen die kleinen Teigtaschen, bevor sie nach und nach in die Pfanne geworfen werden. Neben dem Brutzeln ist auch immer wieder ein lautes Schnarchen zu hören. Auf dem Boden des Tipis liegen drei Männer, sie schlafen gerade ihren Rausch aus. Die Migration ist ein besonderes Ereignis für die Familien. Traditionell bringt jede Familie eine Flasche selbstgemachten Schnaps mit zu dem neuen Camp. Und diese muss geleert werden, bevor die Nomaden weiterziehen.
Eine Nomadin, die im mittlerweile leeren Camp im Wald Stellung hält, ist die 64-jährige Purvee Jambadorj. Sie sitzt gerade in ihrem Tipi, statt dem Grunzen der Rentiere ist nur das Knarzen des Feuerholzes aus ihrem Ofen zu hören. „Ich vermisse meine Rentiere, ich sehe ihnen so gerne beim Grasen zu“, sagt sie. Ihre Kinder haben Sorge, dass sie gesundheitlich nicht fit genug ist, um auf die Migration mitzukommen. Sie haben sie deshalb mit der Betreuung ihrer Enkel beauftragt. Purvee hat ihr gesamtes Leben in der Taiga verbracht. „Unser Alltag ist in den letzten Jahren sehr viel einfacher geworden“, sagt sie. Aber diese Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten.
„In den letzten Jahren hat der Alkoholkonsum unter den jungen Leuten sehr stark zugenommen“, sagt die 64-jährige. Da die Nomaden mehr Lebensmittel im Ort kaufen müssen, ist die Versuchung größer, auch bei Alkohol ins Regal zu greifen. Durch das Geld der Regierung und die Einnahmen aus dem Tourismus können sie sich diesen auch mehr leisten. Und Alkohol ist billig und überall verfügbar. In keinem anderen Land gibt es so viele Läden, die Alkohol verkaufen wie in der Mongolei. Und dann sind da noch die Tourist:innen, die gerne mal als Geschenk eine Flasche Wodka mitbringen.
Alkoholismus ist im ganzen Land ein Problem. Laut WHO leiden etwa 8 Prozent der Bevölkerung unter Alkoholsucht. In der Mongolei sterben zudem die meisten Menschen an Leberkrebs weltweit, was auch auf den hohen Alkoholkonsum zurückzuführen ist. Die Gesundheitsprobleme werden von der Regierung weitestgehend ignoriert. Denn diese verdient durch Steuern und Lizenzen viel Geld mit dem Verkauf. Die Alkoholindustrie hat eine große Lobby im Land. Alkohol hat zudem einen hohen kulturellen Stellenwert, fast jede heimische Marke schmückt ihre Flaschen mit einem nationalen Helden aus Zeiten des Mongolischen Reichs. Schon damals war Alkohol Teil der Alltagskultur. Die Nomaden mussten durch das Jagdverbot einen Teil ihrer traditionellen Lebensweise aufgeben, sie sind damit mehr Teil der modernen mongolischen Gesellschaft geworden. Damit haben womöglich auch die Kehrseiten wie Alkoholmissbrauch Einzug erhalten.
„Es ist gefährlich, wenn sich die jungen Leute daran gewöhnen“, sagt Purvee. Sie versucht, die Kinder über das Thema aufzuklären und mit den anderen Familien über die Gefahren ins Gespräch zu kommen. Die Stimme der 64-Jährigen findet in der Tsaatan-Community mehr Gehör. Zwar bilden die Familien die Kerngemeinschaft bei den Nomaden, es gibt keinen Anführer oder Anführerin. Doch wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen werden, dann wiegt die Meinung der Älteren oftmals mehr. Ihre Erfahrung wird vor allem bei der Frage, wann sie weiterziehen, wertgeschätzt.
Was die Aufgabenverteilung angeht, herrscht bei den Tsaatan-Nomaden eine relativ klare Geschlechtertrennung. „Es ist wie eine ungeschriebene Regel, die von allen akzeptiert wird“, sagt Otgonjargal. Gleichzeitig gibt es aber auch immer mehr Frauen, die die Migration begleiten, was traditionell eher eine Männeraufgabe ist.
Seit einigen Jahren stellen die Männer aus den Geweihen der Rentiere auch kleine Figuren her, die sie im Sommer an Tourist:innen verkaufen. Der Tourismus ist eine weitere Einnahmequelle für die Nomaden, ausländische Gäste kommen in die Camps und zahlen eine kleine Übernachtungsgebühr, um in den Tipis schlafen zu können. Sie kommen vor allem, um den Alltag der Nomaden mitzuerleben.
Eine, die die Tourist:innen zu den Nomaden bringt, ist die 33-jährige Azjargal Amarsanaa, die alle bei ihrem Spitznamen Azaa kennen. Sie sitzt gerade in einer kleinen Hütte in Tsagaannuur. Die junge Frau trägt eine Bomberjacke und eine Outdoorhose. Die Hütte gehört ihrer Kollegin, die ab und zu für die Gruppen von Tourist:innen kocht. Sie hat nur einen Raum mit einem Bett, einer großen Couch und bunt bemalten Regalen. Auf dem Holzofen in der Mitte ist eine große metallene Schüssel mit kochendem Wasser. Die beiden sind gerade dabei, Dumplings für ausländische Gäste zuzubereiten, die heute von einer Tour zurückkommen.
„Ich mache mir Sorgen um eine Niederländerin“, erzählt Azaa. Die Touristin sollte schon längst zurück sein, sie habe mehrmals versucht, ihren Pferdeführer zu erreichen – doch ohne Erfolg. „Ich hoffe, sie ist nicht vom Pferd gefallen“, sagt sie. Gegen 17 Uhr kommt die Niederländerin dann doch in der Hütte an. Sie wirkt etwas angestrengt, es gab eine Misskommunikation zwischen dem Pferdeführer und ihr, sie wollte noch länger reiten als er. Ihr Aufenthalt bei den Nomaden sei schön gewesen, nur hatte sie es sich etwas anders vorgestellt, erzählt sie. „Ich wollte noch mehr mit ihnen über ihren Alltag ins Gespräch kommen. Aber es wirkte, als wären sie alle etwas angestrengt von der Saison“, sagt sie.
Tourist:innen kommen vor allem in den Sommermonaten. Und dann sind es ziemlich viele. Allein Azaa organisiert zwölf Touren pro Saison. Stört die Nomaden der ständige Besuch? Otgonjargal verneint. Ihr machen die ausländischen Gäste nichts aus, da sie ja nur zwei Monate im Jahr kommen. Mit dem zusätzlichen Geld kann sie sich Dinge wie ein neues Bett leisten. Und Purvee freut sich auf die Tourist:innen. „Ich finde es schön, neue Gesichter zu sehen und mehr über andere Lebenswelten zu erfahren“, sagt sie.
Auch Azaa ist der Meinung, dass die Touren noch immer eine nachhaltige Form des Tourismus seien. Die Tsaatan erreicht man nur mit dem Pferd. Je nachdem, wo sie sich aufhalten, kann es ein oder mehrere Tage dauern, um sie zu finden. Allein das verhindert, dass sich eine Form von Massentourismus entwickelt. Die Mutter von zwei Kindern hat zuvor Englisch in Murun unterrichtet. Als Lehrerin waren ihr Beruf und die Kinderbetreuung um einiges einfacher miteinander zu arrangieren. Doch sie liebt es, mit den Pferden in der Natur zu sein. Wenn sie in der Taiga unterwegs ist, passen ihre Mutter oder ihr Vater auf ihre Kinder auf. „Ohne sie könnte ich diesen Job nicht machen“, sagt die junge Frau.
Dass die Großeltern auf die Enkel aufpassen, während die Kinder einem Job in einem anderen Ort nachgehen, ist ganz normal in der Mongolei. Was auch damit zusammenhängt, dass immer mehr junge Menschen in der Hoffnung auf besser bezahlte Arbeit in die Städte abwandern. „Ich habe das Gefühl, dass meine Generation sehr viel materialistischer geworden ist“, sagt Azaa. Es gehe viel darum, mehr Geld zu verdienen. Auch sie möchte ihren Kindern eine gute Ausbildung bieten. Es war auch eine finanzielle Motivation, ein Business als Tourguide aufzubauen, um ihren Kindern mal ein Studium im Ausland zu ermöglichen. Die Tsaatan würden ihr jedoch helfen, nicht zu viel in die Zukunft zu schauen, sondern das Leben im Moment und in der Natur zu genießen.
Gleichzeitig ist das moderne Leben auch in der Taiga längst angekommen. Dinge wie der Internetzugang und die finanzielle Unterstützung machen den Alltag der Nomaden einfacher, haben aber auch neue Abhängigkeiten geschaffen. Für welches Leben sich die Kinder der Tsaatan entscheiden, ob sie das moderne Leben weiter in ihren Alltag integrieren können oder ganz in die Städte abwandern, wird wohl darüber entscheiden, ob die Lebensweise der Tsaatan erhalten bleibt.
Im Camp am Fluss sind nach zwei Tagen die umliegenden Sträucher von den Rentieren abgegrast. Für Otgonjargal und Sansar bedeutet das: weiterziehen. Der Tipi ist so schnell abgebaut, wie er aufgebaut wurde, die Rentiere werden wieder mit ihren Habseligkeiten bepackt. Sansar reitet voran, Otgonjargal folgt auf einem weißen Pferd, hinter ihr trotten vier voll bepackte Rentiere. Dann verschwindet sie in den gelb leuchtenden Hügelketten der Taiga.
Diese Recherche wurde mithilfe der Karl-Gerold-Stiftung finanziert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen