: Das Elend Amerikas
Christiane Ohaus hat John Steinbecks „Früchte des Zorns“ in ein facettenreiches Hörspiel verwandelt. Es führt mitten hinein ins Leid menschengemachter Umweltkatastrophen
Von Benno Schirrmeister
Ein Gluckern, das nach Schnapstrinken klingen soll, und ein Teppich aus Grillengezirpe: So simpel können Geräusche ein Bild der Welt in den Kopf pflanzen. Und dieses Bild reicht jetzt völlig als Hintergrund fürs Gespräch von Gustav Peter Wöhler als Jim Casy, der eigentlich kein Prediger mehr sein will, und Tom Joad, dem Ex-Häftling, gesprochen von Patrick Güldenberg, der auf dem Weg in ein Zuhause ist, das es nicht mehr gibt. Landspekulanten haben die überschuldeten Farmen in Oklahoma plattgemacht. Die Leute brechen in Massen auf nach Westen, Kalifornien, wo es Arbeit geben soll. Auch Toms Familie. Am Samstag ist die erste Folge des NDR-Hörspiels „Früchte des Zorns“ von Christiane Ohaus ausgestrahlt worden. Sechs sind es insgesamt, zwölf in der Audiothek.
Die Szene ist gewissermaßen untypisch. Das Hörspiel prägen aufwendig collagierte Sounds, die Komponistin Stephanie Nilles tief mit dem Text verwoben und subtil instrumentiert hat. Musiker Thomas Deakin setzt sie so um, dass sie Dürre und Hitze direkt im Ohr erzeugen. Aber in sie ragen immer mal wieder Sequenzen hinein, in denen einfache, ja entschieden banale Mittel die Wirklichkeit des mittleren Westens der USA der 1930er-Jahre behaupten: Dadurch lenkt nichts ab vom langsamen Dialog im Schatten des Baumes am Straßenrand.
Diese virtuos eingesetzte Einfachheit entspricht dem Erzählverfahren von John Steinbecks Roman „The Grapes of Wrath“. Der sollte 1939 ja wirklich ein Buch für alle sein – und wurde es auch: Die Veröffentlichung war „ein nationales Ereignis“, hat Literaturwissenschaftler Peter Lisca schon früh erkannt. Das Buch wurde öffentlich verurteilt, wurde im Radio debattiert, machte Sensation in den Kino-Newsreels, also den Wochenschauen in den USA, es wurde bejubelt und beschimpft, verbrannt und verschlungen.
Eine halbe Million Exemplare war innerhalb eines Jahres verkauft. Denn dieses Buch ging die Gegenwart an. Es hielt ihr Leben fest – ihre Komik auch, ihre gelegentliche Lächerlichkeit, aber voll Mitleid eben vor allem ihr Elend. Das funktionierte, weil Steinbeck vermochte, ihre Komplexität in den einfachen Worten einfacher Leute zu erfassen und wiederzugeben. Sein Erzählen schafft für sie Resonanzräume, in denen Obertöne und Tiefsinn vermeintlicher Plattitüden wahrnehmbar wird. Und so setzt dann im Hörspiel, und dieser Übergang ist wirklich schön, der Harmonium-Sound ein, als der Ex-Prediger dem Knastheimkehrer eröffnet, dass er die jungen Frauen immer als „etwas Heiliges“ empfunden habe, die er, durch sein eigenes Gebet in Ekstase versetzt, nach den Gottesdiensten vergewaltigt hat.
Auch das Harmonium ist selbstverständlich ein akustisches Klischee: Es wirkt ein bisschen sedierend. Seinetwegen trifft die Härte der Aussage das Ohr verzögert und gedämpft. Zugleich macht der Sound die spirituelle Ebene des Dialogs und ihren Ruin wahrnehmbar. Denn Casy ist sich der eigenen moralischen Haltlosigkeit bewusst: „Ich habe meine Macht missbraucht“, stellt er fest, „und das war schlecht.“ Worauf die Musik im Hintergrund von der widerlich wimmernden Choralbegleitung der Ersatzorgel in eine Blues-Phrase am weltlichen Klavier wechselt, bis er seine Einsicht mithilfe einer selbst gebastelten Liebesphilosophie verkleistert und auch das Harmonium zurückkehrt. Das Grillenzirpen klingt scharf bedrohlich dagegen an. Es durchdringt Trockenheit, Hitze und den staubverklebten Schweiß auf der Haut.
Neun Stunden hat Ohaus dem Werk Zeit gegeben. Das ist nicht zu viel. Klar lassen die sich dank Audiothek selbstredend bingen. Aber es ist eigentlich ganz schön, dem Ausstrahlungsrhythmus zu folgen. Das wird der Sorgfalt der Produktion gerecht, die der NDR leider mit Bildern bewirbt, die aussehen, als hätte der Jehovas-Zeugen-Chefgrafiker sie entworfen. Sich Zeit zu lassen, ist aber auch Selbstschutz. Denn das Hörspiel geht an die Nieren, gerade weil es von einem Vergangenen erzählt, das nur ein Vorbote der Gegenwart ist.
Anders als John Fords Verfilmung, ein Klassiker auch sie, die zehn Monate nach der Buchveröffentlichung Premiere feierte, überwältigt das Hörspiel dabei nicht. Es hüllt stattdessen ein in die Welt des Romans. Die kann, gerade weil Musik und Text hier so glücklich verschränkt sind, wunderschön zärtlich sein, wenn das Buch der Schildkröte beim Überqueren der Straße zuschaut, oder auch irre lustig: Wie ein Slapstick-Film wirken, dank des unterlegten Ragtime und der punktgenauen Sprecher*inneneinsätze, Hektik, Geprahle und Betrügereien auf dem Gebrauchtwagen-Markt, auf dem auch Familie Joad zu schmerzlich unvorteilhaftem Preis ihre Klapperkiste für den Weg vom ländlichen Oklahoma nach Kalifornien erwirbt.
Oft aber ist diese vielfarbig klingende Welt auf kunstvolle Weise unerträglich. Denn ihre Wirtschafts- und Naturordnung sind (auch) wegen einer menschengemachten Umweltkatastrophe zusammengebrochen: Das Präriegras der großen Ebenen Nordamerikas war beseitigt und durch kurzwurzeligen Weizen und durstige Baumwolle ersetzt worden.
Die Folge: Eine lange Trockenperiode verwandelte jeden Wind in einen Sandsturm. Landwirtschaft? Unmöglich. Rund 2,5 Millionen verarmte Farmer verließen die Great Plains, die den Beinamen „Dust Bowl“ erhielten. „Nach und nach verdunkelte sich der Himmel vom Staub“, heißt es im Roman, und die Chronist*innen-Stimmen halten in solchen Sätzen genau die Balance zwischen naturalistischer Betrachtung und visionär-biblischer Schau: „Es kam die Dämmerung. Aber es kam kein Tag.“
Ohaus hat die erzählerischen Passagen auf vier Stimmen verteilt, ein bisschen wie die Evangelisten des Neuen Testaments: Burghart Klaußner, Astrid Meyerfeldt, Werner Wölbern und Barbara Nüsse bilden ein toll austariertes Quartett. Deren Wechsel machen die Facetten der Vorlage hörbar. Zugleich ermöglicht Ohaus’ entschieden langsames Tempo, die 70 auf 49 Sprecher*innen verteilten Rollen ihrer Fassung fürs Ohr unterscheidbar zu halten, bis aufs gesichtslose Personal der Angestellten, der Polizisten, Wächter, Buchhalter, denen auch der Roman keine Konturen gönnt.
Denn sie sind nur Dienstleister der Katastrophen, von der Bodenerosion über die Todesfälle von Hund, Opa, Baby bis zu Flut und Dammbruch am Ende der Reise im zu Unrecht gelobten Lande Kalifornien. Ihnen in ihrer unerbittlichen Abfolge zuzuhören, ist eine Ohnmachtserfahrung. Auch Familie Joad erlebt sie schließlich, als wären es Schicksalsschläge. Dabei ist klar: Das Ganze ist zwar eine böse Sache, aber Menschen haben sie gemacht, und bei Gott, es wäre etwas gewesen, „das wir ändern können“. Bloß die Menschen, „sie können es nicht mehr kontrollieren“.
Hörspiel „Früchte des Zorns“, nächste Folge am 23. 11., 18 Uhr, NDR Kultur, und die weiteren Samstage bis 21. 12.
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