Reise ins deutsch-polnische Grenzland: Mit dem Meister unterwegs
Die Exkursion als fahrendes Seminar, das hat Karl Schlögel an der Frankfurter Viadrina etabliert. Ehemalige Studierende haben nun einen Bus gechartert.
W ir freuen uns, dass der Mann an Bord ist, der uns den Osten gezeigt hat“, sagt die ehemalige Studentin, deren Ausstellung über jüdisches Leben rechts und links der Oder Furore gemacht hat. Eine andere, inzwischen Vizepräsidentin der Universität, spricht von einem „Star“, wegen dem viele zum Studieren erst nach Frankfurt (Oder) gekommen seien. Manche reden ganz ungeniert, wenn auch akademisch lächelnd, vom „Meister“.
Eine Exkursion als Geburtstagsgeschenk für einen Professor, der ihr Denken, Forschen, Schreiben geprägt hat: Vielleicht ist das nur möglich an der kleinen, feinen Europa-Universität Viadrina, an der Karl Schlögel von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2013 den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte innehatte. Sein visionärer, schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs erschienener Essay „Die Mitte liegt ostwärts“ gibt der Exkursion den Titel.
Es sind Ehemalige, die in Frankfurt in den Bus steigen. An einem sonnigen Herbsttag erwartet sie eine Exkursion ins historische deutsch-polnische Grenzland. Viele von ihnen waren und sind am Institut für angewandte Geschichte aktiv, das aus dem Lehrstuhl Schlögels heraus gegründet wurde. Manche kommen aus Berlin, andere aus Warschau oder den USA, sie sind selbst inzwischen in akademischen Weihen, forschen, lehren, vermitteln als Kulturwissenschaftler und Projektmanagerinnen Geschichte als lebendige Wissenschaft oder als „Augenarbeit“, so wie sie auch Karl Schlögel verstanden hat und versteht.
Die Europa-Universität Viadrina
in Frankfurt (Oder) wurde 1991 wieder gegründet. Viadrina kommt aus dem Lateinischen und lässt sich mit „die an der Oder gelegene“ übersetzen. Motto der Uni: Ex oriente lux. Aus dem Osten kommt das Licht.
Die Exkursion als sinnliches Format, als „fahrendes Seminar“, gehörte zu Schlögels Lehrveranstaltungen immer dazu. Und auch das, was einer seiner Studenten, inzwischen Professor in Hagen, so nennt: „Wir haben von Karl Schlögel gelernt, die Fragen, die wir haben, groß zu stellen, aber immer auch im Kleinen, an konkreten Orten zu beantworten.“
Besuch in Zbąszyń
Einer dieser Orte ist an diesem Tag das polnische Städtchen Zbąszyń, ehemals Bentschen. Dort strandeten im Oktober 1938 7.000 Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft, ausgewiesen aus Nazideutschland und in Polen nicht erwünscht. Die deutsche „Polenaktion“, die auch Marcel Reich-Ranicki als junger Mann erlebte, spülte sie in die Stadt an der damaligen deutsch-polnischen Grenze, deren Bewohner ihnen, zur Überraschung Warschaus, halfen.
Vor Ort erfahren die Teilnehmenden, wie Hunderte der Gestrandeten in der ehemaligen Schule untergekommen sind. Eine Stiftung hat sich das Erinnern an diese Zeit zur Aufgabe gemacht, in der Zbąszyń, wie es die Zeitung Gazeta Wyborcza einmal schrieb, das „menschliche Gesicht Polens“ zeigte. Auch in den Schulen ist die Polenaktion Thema. Bei einem Spaziergang durch die Stadt zeigen Schülerinnen ihre Arbeiten zum Schicksal der jüdischen Familie Wajman, zu der sie forschen.
Ort und Geschehen zusammendenken, die Geschichte nicht nur als Abfolge von Ereignissen begreifen, sondern vor Ort mit Händen greifen, ihre Spuren verfolgen, die Steine zum Sprechen bringen können: Früh schon hat Schlögel das Tabu, das lange auf der deutschen Beschäftigung mit „Raum“ lag, beiseite geschoben und einen „Spatial Turn“ in den Kulturwissenschaften mit befördert. Paradigmatisch in diesem Sinne waren auch seine Bücher. Eines trägt den Titel: „Im Raume lesen wir die Zeit“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wie der Leser durch die Seiten eines Buches blättert sich der Bus durch den Text einer historischen Landschaft. Und der „Meister“, unzugänglich in seiner Art manchmal und dennoch tief gerührt, hat am Ende das letzte Wort: „Meine Generation“, sagt Karl Schlögel auf der Rückfahrt, „ist nach ihren Aufbrüchen 1968 und 1989 noch einmal kalt erwischt worden. Selbst wenn wir es wollten, können wir uns nicht zurücklehnen. Wir müssen noch einmal in die Arena steigen.“
Nicht nur Russlands Krieg in der Ukraine meint Karl Schlögel in diesem Moment, sondern auch den Zustand Europas. Auf der Oderbrücke zwischen dem polnischen Słubice und Frankfurt steht ein Beamter der Bundespolizei. Der Fahrer hält, der Beamte schaut in den Bus, dann winkt er durch.
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