Ausstellung über NS-Zwangsarbeit: Das Album der Schande
Ein Fund auf dem Flohmarkt erweist sich als einmalige Fotodokumentation der NS-Zwangsarbeit in Griechenland. Nun werden die Bilder in Berlin gezeigt.
Die kleinen Schwarz-Weiß-Fotos auf schwarzem Trägerpapier wirken nicht eben spektakulär. „Blick vom Meer zur Stadt“ hat der Fotograf die Bilder von der griechischen Hafenstadt Thessaloniki überschrieben. Sie zeigen Schiffe und am Wasser gelegene Gebäude. „Hammelbraten am Spieß“ steht unter einem anderen Bild, darauf vier Männer in sommerlicher Szene. Auf einigen Fotos sind Uniformträger zu erkennen.
Als Andreas Assael vor mehr als 20 Jahren von einem Flohmarkthändler bei München das Album mit diesen Bildern angeboten bekommt, ist er nur mäßig interessiert. Der griechische Ingenieur sammelt Kollektionen wie diese, das weiß der Verkäufer. „Du Grieche, ich habe etwas für dich“, habe der ihn angehalten.
Doch an diesem Tag hat Assael schlechte Laune und will kein Geschäft machen. Aber dann sieht er auf einer der Seiten das Foto einer Marschkolonne, offenbar Gefangene, und bemerkt, dass sie scheinbar mit „Judensternen“ marschieren müssen. Assael ist selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden aus Thessaloniki. Er entscheidet sich zum Kauf. „Ein paar hundert Euro“, so erinnert er sich, habe er damals bezahlt.
22 Jahre später steht das Album im Mittelpunkt einer Ausstellung im Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Uli Baumann von der Stiftung Denkmal für die ermordete Juden berichtet, wie er erstmals von den Fotos erfuhr: „Eines Tages erhielt ich einen Anruf vom deutschen Generalkonsul“, erzählt er. „Da habe jemand einen bemerkenswerten Fund gemacht, hieß es.“ Es war der Beginn einer ungewöhnlichen Kooperation zwischen deutschen Gedenkstätten und dem Entdecker des Albums.
Assael entdeckte eine einmalige Fotodokumentation
Andreas Assaels Familie hat 43 Angehörige im Holocaust verloren. 15 Jahre lang hat der Ingenieur über die Bilder geforscht und immer wieder neue Details entdeckt. Anfangs, so sagt er, habe sich in Griechenland niemand für die Bilder interessiert. Jetzt endlich wird das Album präsentiert. Zur Eröffnung der Schau im September ist der Entdecker der Bilder extra aus der Region um Thessaloniki, wo er heute lebt, nach Berlin gekommen.
„Karya 1943. Zwangsarbeit und Holocaust“ lautet der Titel der Ausstellung. Tatsächlich hatte Assael in München eine einmalige Fotodokumentation entdeckt. Ein deutscher Ingenieur hat darin die Umstände der Sklavenarbeit von später größtenteils in Auschwitz ermordeten griechischen Juden abgebildet.
Hans Rössler hieß der Mann, der 1930 in die NSDAP eingetreten war und der ab 1942 im deutsch besetzten Teil Griechenlands als Mitarbeiter einer Baufirma für die Organisation Todt tätig war. Das war eine paramilitärische Nazi-Bautruppe, die den Namen ihres Chefs Fritz Todt trug. Rösslers Firma leitete ein gewisser Josef Langbeil. Sogar über den 1969 Verstorbenen fand Assael noch Dokumente – erneut auf einem deutschen Flohmarkt.
Die Bilder zeigten „einen von Zehntausenden Tatorten in Europa“, sagt die Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide, Christine Glauning, bei der Eröffnung. Es sind Fotos aus Sicht der Täter. Rössler interessierte sich vor allem für den Baufortschritt, gewiss auch für die Schönheiten des Landes, aber weniger für die versklavten Menschen.
Viele starben bei der schweren Arbeit
Tatsächlich war Assaels erster Eindruck richtig. Auf einem der Bilder ist mit der Lupe erkennbar, dass die Männer einer Marschkolonne „Judensterne“ tragen mussten. Aber was ist auf den anderen Fotos zu sehen? Und wo wurden die Bilder überhaupt gemacht?
Andreas Assael ging daran, die Fotos zu entschlüsseln. Es gab nur wenige schriftliche Angaben in der Sammlung. Die Bilder waren in der falschen Reihenfolge eingeklebt. Im Album ist von einem „Bahnbau in Karia“ die Rede. Assael fand heraus, dass der Ort an der wichtigen Bahnlinie von Athen nach Thessaloniki zwischen zwei Tunneln liegt.
Er fand sogar drei jüdische Überlebende, die ihm von den Qualen dort berichten. Die Deutschen verlangten 1943 den Bau eines Ausweichgleises auf der militärisch wichtigen Strecke. Dazu sollte ein Teil eines Hügels abgetragen werden – 24.000 Kubikmeter Stein mussten in Handarbeit bewegt werden. Viele der Männer starben bei der schweren Arbeit.
„Es gab für jeden von uns eine leere Konservendose als Essgeschirr und eine weitere zum Pinkeln, denn nachts durften wir die Baracke nicht verlassen“, erinnerte sich Sam Nachmias. Ein anderer Zwangsarbeiter gab zu Protokoll: „Das Leben dort war schrecklich. Es gab wenig zum Essen, man musste andauernd hart arbeiten, 12 Stunden am Tag.“ Karya liegt abseits von Siedlungen. Die 300 bis 500 Arbeiter waren in einem streng bewachten Barackenlager untergebracht. Ein Zwangsarbeiter entkam. Er konnte sich bei einer christlichen griechischen Familie verstecken.
Heute ist der Bahnhof Karya das, was man einen „lost place“ nennt. Die modernisierte Eisenbahnstrecke nimmt inzwischen einen anderen Verlauf und die alte Linie ist seit 2019 geschlossen. Die Gleise verrosten, die wenigen Überbleibsel des Bahnhofs verschwinden.
Wissenschaftler der Universität Osnabrück haben in Karya nach Artefakten der Zwangsarbeiter gesucht und neue Bilder von den alten Standpunkten des damaligen Fotografen Rössler aus gemacht. Das ergibt in der Ausstellung eine Multimedia-Schau mit sich ergänzenden alten und aktuellen Perspektiven, die die damalige Situation anschaulich machen. Informationen zur Lage der Juden im deutsch besetzten Griechenland ergänzen die Bilder aus dem Album.
Wohl im Juli 1943 endete die Arbeit in Karya; bereits im März hatten die großen Deportationen der griechischen Jüdinnen und Juden nach Auschwitz begonnen. Auch die meisten der Zwangsarbeiter aus Karya entgingen diesen Verschleppungen nicht. Kaum einer kehrte zurück. Mehr als 58.000 griechische Jüdinnen und Juden fielen dem Holocaust zum Opfer.
Karya 1943. Zwangsarbeit und Holocaust. Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, Berlin-Schöneweide. Bis zum 30. März 2025, Eintritt frei. Ein Katalog erscheint voraussichtlich 2025
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!