: Gesitteter Auftakt
Bei der ersten Sitzung des Brandenburger Landtags zeigt sich im Vergleich zu Thüringen: Es macht einen Unterschied, wer stärkste Kraft im Parlament ist
Aus Potsdam Stefan Alberti
Tumulte wie in Erfurt? Peinliche Worte? Oder eine Annäherung an die AfD? Bevor sich der neue brandenburgische Landtag am Donnerstag zum ersten Mal treffen sollte – was offiziell unter „Konstituierung“ läuft –, hat es einige Befürchtungen gegeben. Was vor allem daran lag, dass traditionsgemäß der Alterspräsident eine solche erste Sitzung mit einer Rede eröffnet – und dass dieser älteste Abgeordnete ein Mann vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sein würde, das weiterhin als eine Art Black Box gilt.
Reinhard Simon heißt der 73-Jährige, der an diesem Morgen vor 85 anderen Abgeordneten im Potsdamer Plenarsaal sitzt – zwei Abgeordnete fehlen. Die roten Sitze und das gleichfarbige Landeswappen bilden den einzigen Kontrast zum sonst harten Weiß des Raums. Am Montag war in einem Interview mit der Märkischen Allgemeinen zu lesen, er habe in seinen fast 30 Jahren als Theaterintendant gelernt, Brücken zu allen Parteien zu schlagen. Dabei erinnerte er daran, das BSW habe mehrfach gesagt, dass man AfD-Anträge bei Dingen, die aus BSW-Sicht sinnig sind, nicht pauschal ablehnen werde.
Simon wirkt organisierter als vor rund drei Wochen jener AfD-Alterspräsident im Thüringer Landtag, der die dortige Eröffnung im Tumult versinken ließ. Es gibt allerdings auch keinen Anspruch der AfD auf den Parlamentsvorsitz – sie ist in Brandenburg bei der Wahl, anders als in Thüringen, nur auf Platz zwei gelandet. Hinter der SPD mit ihrem Landeschef und Ministerpräsidenten Dietmar Woidke. Das macht an diesem Tag sichtlich den Unterschied aus zwischen dem gesitteten Ablauf in Potsdam und den Tumulten in Erfurt.
Bei den seit 2019 mitregierenden, nun aber aus dem Parlament gefallenen Grünen hingegen hatte man die Bedeutung des Wahlsiegs der Sozialdemokraten anders bewertet. „Es ist völlig egal, ob die SPD vorne ist oder hinten liegt – das war nur fürs Ego von Dietmar Woidke wichtig“, sagte der gescheiterte Grünen-Spitzenkandidat Benjamin Raschke am Tag nach der Wahl.
Dass die Grünen tatsächlich erstmals seit 15 Jahren nicht mehr im Landtag sitzen, wird an diesem Morgen auch in ganz praktischen Dingen deutlich: Petra Budke, die vormalige Fraktionschefin, verfolgt die Sitzung wie mehrere ausgeschiedene Abgeordnete von der Besuchertribüne aus. Es sei das letzte Mal, dass sie Zugang zur Landtagsgarage habe, um dort ihr Fahrrad abzuholen, erzählt sie.
Für Woidke, den seit 2013 amtierenden Ministerpräsidenten, hatte die Eröffnung, wie auch für einige andere Landespolitiker, schon eine Stunde früher begonnen: bei einer ökumenischen Andacht in der Nikolaikirche. Die liegt gegenüber vom Landtag an einem Platz, an dem auch noch das Barberini-Museum mit seiner inzwischen weltweit renommierten Monet-Sammlung residiert – und wo auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wohnt.
An diesem Morgen aber prägt Protest den Platz. Die laute Kritik der Demonstranten am geplanten Abschiebezentrum am Flughafen BER ist zumindest hinten auch durch die Kirchenmauern zu hören. Dort rufen zwei Bischöfe, einer evangelisch, einer katholisch, zu wertschätzendem Umgang miteinander auf. „Bewahre uns, Gott“, ist eines der drei Lieder, die sie mit den Politikern in den Bänken anstimmen – auch mit Blick auf das neue Parlament.
Zumindest in den folgenden zweieinhalb Stunden der Eröffnungssitzung erfüllt sich die Hoffnung darauf. Weder wird der BSW-Alterpräsident ausfällig oder AfD-nah – er erwähnt sie noch nicht einmal – noch gibt es Aussetzer bei der AfD selbst. Die wählt in geheimer Abstimmung sogar mindestens mit einem Teil ihrer Abgeordneten die SPDlerin Ulrike Liedtke erneut zur Parlamentspräsidentin. Ihr Kandidat für einen der nun drei statt zwei Stellvertreterposten fällt zwar im ersten Wahlgang durch, bekommt aber im zweiten die nötige Mehrheit.
Von Reinhard Simon, dem mit dem brandenburgischen Verdienstorden ausgezeichneten Ex-Theaterleiter aus Schwedt, ist unter anderem zu hören, dass der verstorbene frühere Ministerpräsident Manfred Stolpe ihm mal auf der Toilette das Du angeboten habe. Und dass es ihn mit Stolz erfülle, dessen Nachfolger Matthias Platzeck (beide SPD) – an diesem Morgen in der ersten Reihe der Besuchertribüne zu sehen – einen guten Freund nennen zu dürfen.
Parlamentspräsidentin Urike Liedtke (SPD) über die neue Macht der AfD-Fraktion
Ein ziemlich umgestalteter Landtagssaal hat Simon und die anderen Abgeordneten zuvor erwartet. Aus den sechs Tortenstücken im Halbrund des Parlaments, die die früheren sechs Fraktionen markierten, sind vier geworden. Wo bisher – aus Präsidiumssicht – links außen die Linkspartei neben den Grünen saßen, sitzen nun die 14 Abgeordneten des BSW, neben der SPD, ihrem möglichen Koalitionspartner. Tags zuvor hatten sich beide Parteien erneut getroffen um ein Bündnis auszuloten (siehe Text rechts auf dieser Seite).
Nicht zum Tragen kommt an diesem ersten Sitzungstag, dass die AfD-Fraktion nun Beschlüsse verhindern kann, für die es eine Zweidrittelmehrheit braucht. Mit 30 der insgesamt 88 Parlamentssitze hat die Fraktion knapp mehr als jenes Drittel, das ihr eine sogenannte Sperrminorität gibt. Das wird erst bei Verfassungsänderungen und der Wahl von Landesverfassungsrichtern zum Tragen kommen, um die es an diesem Tag nicht geht.
„Der Umgang mit einer Sperrminorität ist neu“, sagt die alte und neue Präsidentin Liedtke nach ihrer Wiederwahl. Die Musikwissenschaftlerin, die lange die Musikakademie in Rheinsberg leitete, mahnt zu einem sorgfältigen Umgang mit Sprache. „Die Menschenwürde darf nicht verletzt werden“, fordert sie, „auch nicht mit Worten“. Zumindest bis Sitzungsende ist sie damit erfolgreich. Das ist allerdings auch schon gut eine Stunde später.
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