Dem Grusel mit Humor begegnen

Nikolaus Habjans Puppen sind unverwüstlich und verletzlich zugleich. Sie erzählen Geschichten vom Fortleben faschistischer Ideologien und zelebrieren die Schönheit der Oper

Nikolaus Habjan mit einer seiner Puppen Foto: Thomas Aurin

Von Katrin Bettina Müller

Ich lüg dich nicht an.“ Mit diesem Satz unterbricht die Puppe, die Friedrich Zawrel im Stück „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ verkörpert, immer wieder ihren Erzählfluss und fährt herum zu ihrem Puppenspieler Nikolaus Habjan. Ein lustiger und trickreicher Moment. Denn einerseits spricht die Puppe ja mit Habjans Stimme, reißt ihr Klappmaul nur dank seiner Hand auf, lebt nur durch ihn. Und behauptet doch andererseits einen starken eigenen Willen, tritt ihm als eigene Figur gegenüber.

Tatsächlich ist unglaublich, was die Puppe Friedrich in diesem ungewöhnlichen Stück zu erzählen hat. Friedrich Zawrel hat in Österreich das nationalsozialistische Programm der Kindereuthanasie überlebt. Er schildert seine Kindheit in Armut, Verfolgung und Internierung in grausamen Heimen und seine Fluchten fast wie eine Schelmengeschichte. Jahrzehnte später begegnete er dem Mediziner, der für die Beurteilung als „minderwertig“ verantwortlich war, in einem hohen Amt im Gesundheitswesen Österreichs nach 1945 wieder. Jahrelang bemühte sich Zawrel um die Aufdeckung von dessen Verbrechen und eine Anklage. Viele Hürden wurden ihm dabei in den Weg gelegt.

Kindereuthanasie, über dieses Thema zu reden, fällt schwer. Aber Nikolaus Habjan, der mit Zawrel viele Gespräche geführt hat, und dem Regisseur Simon Meusburger ist ein äußerst bewegendes Stück gelungen. Ihr Zawrel ist mit einem Humor begabt, der es erleichtert, das Schreckliche an sich heranzulassen. Wenn Zawrel heute auf die Bühne des Deutschen Theaters in Berlin zurückkehrt, ist es die 631. Vorstellung, die Habjan mit ihm spielt. „Das ist, als würde ich einen Freund noch einmal besuchen“, sagt Nikolaus Habjan (im Zoominterview). Als Zawrel 2015 starb, vermachte er sein Gewand der Puppe.

Auch zwölf Jahre nach der Premiere ist die Motivation, das Stück weiter zu spielen immer noch stark, wenn nicht so gar gewachsen. Hinter Habjans Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner mangelhaften Verarbeitung steht sein Blick auf die Gegenwart und den wachsenden Rechtspopulismus. „Warum läuft es so, wie es heute läuft? Lernen wir nicht aus der Geschichte? Das macht mich traurig“, sagt er im Gespräch mit der taz und schiebt hinterher, wie gruselig es sei, dass die „Welt verdrehten Wahrheiten anheimfällt“.

Intendantin Iris Laufenberg, die mit ihm schon in Graz zusammengearbeitet hat, hat ihn als Gast ans Deutsche Theater in Berlin geholt. Dort spielt er auch „Böhm“, ein Porträt des Dirigenten als grantelnden Diktator im Orchestergraben und politischen Opportunisten der NS-Zeit mit gepflegten Erinnerungslücken im Alter. „Wenn das Politische auf sie zukommt, schauen sie auf die Noten“, ist seine Strategie, Verantwortung zu vermeiden. Und doch hat man Mitgefühl mit der Puppe, ihrem faltigen Gesicht, ihrem hilfsbedürftigen Körper, ihrer Flucht in die Musik.

Habjans Puppen sind Klappmaulpuppen, der Kopf sehr groß, der Mund sehr breit, eine Hand sehr bewegt, der Rest des Körpers oft diffus. Man erlebt sie traurig, listig, leidend, triumphierend und kann es kaum glauben, das ihr Puppengesicht eigentlich nur einen Ausdruck hat, der sich aber mit der Stimme, den Bewegungen des Spielenden ständig zu verändern scheint.

Diese Theatermagie, denkt Habjan, macht Puppenspiel zur „Königsdisziplin der Behauptung“. Natürlich ist hier alles Illusion. Aber die Zuschauer sind mehr gefordert und beteiligt als bei anderen Theaterformen, Hirne und Vorstellungskraft ersetzen ständig, was fehlt. Mit dem Publikum zusammen erschafft der Spieler die Figuren. Deshalb wird man auch seelisch von ihnen so leicht angefasst.

Nikolaus Habjan baut seine Puppen selbst. Er liebt es, wenn das Material schon ein „wenig Ranz hat“, Spuren des Benutzten und Verlebten. Dass der Spieler nichts ist ohne Puppe und die Puppe nichts ohne ihn: Aus diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis schlägt er nicht nur in seinen Stücken Funken, sondern auch ein Stück Theaterphilosophie. Verlässt der Spieler die Puppe, bleibt nur tote Materie. Leben und Tod wohnen deshalb schon bildlich und fühlbar nebeneinander im Puppenspiel.

Zwischen Spieler und Figur ist die Möglichkeit des Bruchs, des Zweifelns angelegt

Das nutzt Nikolaus Habjan auch in seinem zweiten beruflichen Leben, als Regisseur von Opern: Er hat an der Semperpober Dresden „Orfeo“ inszeniert, in Dortmund und in Cleveland Mozarts „Zauberflöte“, in Bern Händels „Alcina“ und in Basel den „Barbier von Sevilla“. Diese Produktion mit einem Kammerensemble junger Musiker von der Hochschule der Musik und mit jungen Sängern lässt auch in einer Videoaufzeichnung nachvollziehen, welches Potenzial in der doppelten Rollenbesetzung mit einer Puppe und einem/einer Sän­ge­r:in besteht. Einerseits verweisen die Puppen in liebevollen Karikaturen ihrer Figuren auf die Historizität der Oper, das Altern des Stoffes, den Abstand zur Gegenwart. Der Gestus aber dann, den sie von den Sän­ge­r:in­nen selbst und weiteren Mitspielern geführt entfalten, erzählt vom Feuer der Künstler:innen, von der Aufregung des Auftritts, von der Freude an der Bravour, vom Stolz auf die Virtuosität, von der Dankbarkeit über den Erfolg. So wird die Oper transparent, um die Verfasstheit derer zu skizzieren, die ihr ihre Leidenschaft widmen.

Nikolaus Habjan hat auch eine spezielle Verbindung zur österreichischen Autorin und (Nobelpreisträgerin) Elfriede Jelinek. Sie, die für ihre Kritik an Autoritätshörigkeit, an Opportunismus und Fremdenhass, an politischen Skandalen und Willkür, nicht nur in Österreich oft beschimpft und verletzend beleidigt wurde, scheut den öffentlichen Auftritt. Für die Rolle der Elfriede in ihrem Stück „SCHATTEN (Eurydike sagt)“ am Akademietheater in Wien 2013 schuf er eine Puppe der Schriftstellerin. Die ist seitdem ihr offizielles Double, spricht teilweise auch mit ihrer Stimme und holt für sie zum Beispiel Auszeichnungen bei Preisverleihungen ab.

Den australischen Puppenspieler Neville Tranter sieht Nikolaus Habjan als seinen Mentor. Habjan, 1987 in Graz geboren, erlebte dessen Spiel mit den Klappmaulpuppen, als er noch ein zwölfjähriger Junge war. Aber wenn er davon redet, klingt es so, als hätte er ab da an gewusst, was er machen will. Die Puppe erlaubt mit Charakteren zu spielen, die man eins zu eins nicht auf die Bühne bringen möchte. In der Spannung zwischen Spieler und Figur ist aber die Möglichkeit des Bruchs, des Zweifelns, des Kommentars angelegt. Und das hat Tranter genutzt in seinem legendären Stück „Schicklgruber“, das von Hitlers Geburtstag am 20. April 1945 in einem verdreckten Berliner Bunker erzählt. Die Rote Armee hat die Reichshauptstadt eingeschlossen, alles droht zusammenzubrechen, doch die von Hitler Auserwählten lassen sich ihren Feierwillen nicht verderben. Neville Tranter (1955 geboren) zieht sich von der Bühne zurück, aber das Stück hat er an Nikolaus Habjan übergeben, der es im Mai 2025 am Deutschen Thea­ter zur Premiere bringen wird.

Im Anschluss an die heutige Vorstellung findet ein Publikumsgespräch mit Nikolkaus Habjan im Foyer des Deutschen Theaters Berlin statt.