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Influencerin der Mystik

Gelungener Abend unterm Dom: Das Theater „Mensch, Puppe!“ folgt den Bremer Spuren der Esoterik-Ikone und Emanzipations-Vorreiterin Hildegard von Bingen

Von Jens Fischer

Dem Licht hörig: Hildegard von Bingen leuchtete es immer wieder, vermittelte Ahnungen von einer anderen Welt, vielleicht sogar metaphysische Botschaften und verwandelte so den leeren Himmel in einen heimatlichen. Jedenfalls deutete die Mystikerin selbst ihre Geschichte so. Was Papst Eugen III. derart überzeugte, dass er die adelige Nonne auf der Trierer Synode 1147 zur römisch-katholischen Visionärin adelte – und ihr Erlaubnis erteilte, ihre Offenbarungen zu veröffentlichen.

Was die damals wohl einzige Möglichkeit für eine Frau war, öffentlich mitzureden und zumindest minimal Einfluss zu nehmen auf das geistliche und weltliche Patriarchat. Ob Hildegard (1098–1179) nun wirklich mit einem Gott kommunizierte, die Erlebnisse vielmehr auf eine psychische Störung schließen lassen oder schlicht schlaues Selbstmarketing waren? Das weiß heute niemand.

Aber mit den Visionen, das ist offensichtlich, begann die Benediktinerin sich als Multitalent auszuleben: Sie veröffentlichte Bücher über Ernährung, die magische Energie von Steinen, religiöse und politische Fragen; sie reüssierte als Dichterin und Komponistin, predigte, trat als Ratgeberin für Kaiser und Kirchenobere auf.

Heute wird Hildegard von Bingen geradezu als Markenname für allerlei naturheilkundliche sowie esoterische Produkte genutzt, sie ist Ikone des Mystizismus und gilt als Ahnfrau weiblicher Emanzipation.

Mit der seit 2012 auch offiziell Heiligen setzt sich nun das Figurentheater „Mensch, Puppe!“ auseinander. Aufgeführt wird das Stück „Hildegard von Bingen. Bremer Spuren“ im Souterrain des St.-Petri-Doms, der Ostkrypta, 1042 angelegt und damit wohl der älteste noch im Urzustand erhaltenen Raum der Stadt. Bis heute sind an den Kapitellen der romanischen Säulen vorchristliche Motive zu entdecken.

Aktuell wird die Krypta als Raum der Stille genutzt. Flammende Strahlen fallen keine aus dem Jenseits durch die Fensterluken, nur zwei Kerzen flackern einträchtig und Scheinwerfer lassen den Raum immer wieder anders karg-schön wirken. Also ein klösterlich angemessenes Szenario, in dem Regisseur Philip Stemann auf Spökenkiekerei-Bebilderung oder Mittelalter-Show verzichtet zugunsten eines schmerzhaften Beziehungsdramas.

Fein ausbalanciert spielen dazu der Oboist Benjamin Fischer und Domkantor Tobias Gravenhorst an einer kleinen Sieben-Register-Orgel mit Kompositionen Hildegard von Bingens, indem sie live improvisatorische Freiheiten des Jazz sowie Stilmittel zeitgenössischer Musik nutzen. Ihre Tonkunst schweift wehklagend, tastet fragil durch den Raum oder breitet sich sphärisch aus, erhebt sich aber auch jubilierend und sucht sehnsüchtig nach göttlichen Harmonien.

In diesem faszinierend halligen Klangraum stellt sich Figuren- wie Schauspielerin Jeanette Luft als Touristenführerin vor, erklärt die Historie des Ortes und kommt über Leihgaben des Dommuseums auf Hartwig von Stade zu sprechen, den Erzbischof von Bremen, dem heute noch die Hartwigstraße gewidmet ist. Damit sind wir im 12. Jahrhundert. „Die Quellenlage ist dürftig“, sagt Luft, aber klar sei: Hildegard war nie in Bremen – weswegen sie auch nicht auftreten wird. Zitate aus ihren Büchern und Briefen artikuliert dann eine strahlend klare Geisterstimme aus dem Off.

Aber was ist nun mit „Bremer Spuren“? Hartwichs Schwester, Richardis von Stade, ist Hildegards beste Freundin, engste Vertraute, Helferin und vielleicht auch Geliebte im klösterlichen Leben. Sie erscheint neben Hartwig und seinem fiktiven Kreuzzugfährten Myrtelin als Stabpuppe, die Köpfe ragen mit starr-ernsten Totenmaskengesichtern aus einem Gewand, belebt vom Spiel der freien Hand Lufts und deren beeindruckend wandlungsfähiger Stimme. Die Dialoge selbst hat Stemann in einem mittelalterlichenden Duktus verfasst.

Hildegard war nie in Bremen, erklärt die „Fremdenführerin“ – weswegen sie auch nicht auftritt

Hartwig und Myrtelin repräsentieren die Ränkewelt des Klerus, wobei es vorgeblich um die „Missionierung der Heiden im Norden“ geht, in Wirklichkeit aber um die Ausdehnung von Herrschaftsbereich und Reichtum. Richardis zwingt ihr Bruder aus Hildegards Kloster in die Rolle der Äbtissin von Bassum, 30 Kilometer südlich von Bremen, wo sie Hildegards beliebte Lehren zu seinen Gunsten auslegen soll. Sie fügt sich – wohl aus Pflichtgefühl gegenüber der Familie.

Die an sich willensstarke Hildegard aber leidet am Rande der Verzweiflung. Sie bittet, bettelt, erniedrigt sich – in Briefen – selbst, um Richardis’Rückkehr zu erwirken. Laut dem Stück ist die auch dazu bereit. Vor ihrer Heimkehr aber stirbt sie urplötzlich. Auf Veranlassung des Bruders? „Der Teufel stimmt sein Hohngelächter an, denn kein Werk Gottes lässt er jemals unberührt“: Das sind die final zur Interpretation eingesprochenen Worte.

Wo Hildegard draufsteht, ist oft nur überteuerter Unsinn drin. Hier nicht: Das Licht des Figurentheaters lässt diese Produktion in künstlerisch prachtvoller Konzentration erglühen, erdenschwer und himmelhochstrebend. Geboten dezent gelingt es, dem schillernden Popstar des Mittelalters indirekt näherzukommen, indem abseits des um Hildegard von Bingen gestrickten Mythos irdisch-menschliche Züge ihrer Persönlichkeit beleuchtet werden.

Nächste Aufführungen: 20. + 21. 9.; 5. + 6. 10., St.-Petri-Dom Bremen

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