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Kunst, die noch entdeckt sein will

Im Alten Wasserturm Varel finden Künstler:in­nen individuelle Perspektiven auf ein gemeinsames Thema. Und ein interessiertes Publikum

Von Bettina Maria Brosowsky

Wer sagt denn, dass zeitgenössische Kunst einer Großstadt bedarf, um zu gedeihen und wahrgenommen zu werden? Immer wieder gab es Rückzugsorte in der Provinz. So hat einst das Fischerdorf Dangast, heute ein Stadtteil von Varel, die Maler der Dresdner Vereinigung „Die Brücke“ angelockt. Die bestritten dann 1908 ihre allererste Ausstellung im Oldenburger Kunstverein.

Die soll auf eher verhaltene Resonanz gestoßen sein, ganz im Gegensatz zur Eröffnung der „Kunst im Turm“ des Vereins „Kunstraum“ kürzlich in Varel: Über 200 Interessierte kamen da zusammen. Und rund 125 nahmen die Mühen auf sich, die rund 220 Stufen des Wasserturms, ein Vareler Baudenkmal, zu erklimmen. Gilt es doch, in den verschachtelten Treppen und auf den Zwischengeschossen die Arbeiten von 50 teilnehmenden Künst­le­r:in­nen teilweise ganz wörtlich zu entdecken. Denn vieles ist recht beiläufig arrangiert wie etwa das Exponat auf dem Treppenabsatz bei Stufe 13: ein Bildnis und eine kleine Totenmaske der Unbekannten aus der Seine. Dieses morbide Requisit so mancher Künstlerbleibe der Belle Époque entstammt einer „Ano­nymen Haushaltauflösung“. Das steigert das Geheimnis, wer dieses Readymade wohl beigesteuert haben mag: Alle Arbeiten stammen von in Varel geborenen oder ortsansässigen Künstler:innen.

Seestücke? Nein Danke!

Zugleich stimmt dieses Wasserleichen-Artefakt perfekt aufs gemeinsame Thema der Ausstellung ein, nämlich – ortsbezogen – Wasser. Es werde aber, stellt Matthias Langer klar, seit Kurzem Vorsitzender und gut vernetzter Motor des „Kunstraums“, keine Ansammlung von Leuchttürmen, Segelbooten oder Küstenlandschaften dargeboten. Vielmehr gehe es um die physischen, metaphorischen, mysteriösen oder auch gebrauchsorientierten Qualitäten des Wassers. Und das auf die innere Architektur und die funktionsbedingte Einrichtung des Wasserturms abgestimmt, eben zum gemeinsamen Erkunden von Kunst und Raum.

So findet sich hinter einer stationären Glaswand auf einem Sockel die Holzarbeit von Hilde Jordan „Angespült, gerettet und zu neuem Leben erweckt“. Hier wurde ein Fund aus dem Meer durch dessen Kraft zu skulpturaler Eindringlichkeit veredelt. Die in Hamburg lebende Künstlerin Rhea Kropp lässt an einem unscheinbaren Mauervorsprung ihren kurzen Videoloop „Muschelaugen“ laufen, in dem sie sich mittels dieser Meeresfrüchte in ein geheimnisvolles Wasserwesen verwandelt.

Die haben es auch Michael Soltau angetan: In einer großformatigen, ganz aktuellen Videoarbeit verfolgt er das Treiben von „Mermaids“. Ganz unmaritim fällt dann Gerdine Frencks Blick aufs Wasser aus. Sie gedenkt in „Tupak“ dem infolge einer Schießerei gestorbenen US-Rapper Tupac Shakur. In ihrer Serie der „Nachstellungen“ reinszeniert sie im weniger glamourösen heimischen Nassbereich das ikonische Postermotiv, das Tupac, umgeben von blauen Fliesen, den Genitalbereich mit Goldschmuck bedeckt, in der Badewanne zeigt.

Frencks lebt in Braunschweig, wo auch der 1970 in Varel geborene Matthias Langer Grafikdesign und freie Kunst studiert hat. Auf das Meisterschuljahr bei Dörte Eißfeld folgten Preise und internationale Ausstellungsbeteiligungen, derzeit ist er mit seinen vegetabilen Fotostills auch in der Ausstellung „Die Schönheit der Dinge. Stillleben von 1900 bis heute“ in der Kunsthalle Emden vertreten. Langer pendelt seit Geraumem zwischen Braunschweig und seinem Heimatort. Er will in Varel regionale Talente aufspüren, aber auch junge Künst­le­r:in­nen dort zeigen. „Ausprobieren, was möglich ist“, so Langer. „Kunst im Turm“ ist die dritte Ausstellung, die er mitverantwortet. Und wie bereits 2022 mischen sich akademisch ausgebildete Künst­le­r:in­nen mit Autodidakt:innen.

Ausstellung „Kunst im Turm“, Wasserturm, Oldenburger Str. 62, Varel, täglich 13–17 Uhr; am „Tag des offenen Denkmals“, Sonntag 8. 9., ab 10 Uhr geöffnet. Bis 15. 9.

Kunst mal ganz frei von Standesdünkel

Langer weiß die künstlerische Basisarbeit der Schulen und Volkshochschulen zu schätzen, sagt, dass er einem Zeichenkurs seine Initiation als Künstler verdankt. Er ist aber auch stolz, dass ein tätiger und ein emeritierter Kunsthochschulprofessor und mehrere ehemalige Meis­ter­schü­le­r:in­nen in der Ausstellung dabei sind.

Der Verein „Kunstraum“ zählt mittlerweile 50 Mitglieder, darunter einige der Ausstellenden, und hat sich bislang sehr aktivistisch in temporär überlassenen Räumlichkeiten zu inszenieren verstanden. Der nächste Schritt, so Langer, wäre allerdings eine größere Planungssicherheit, auch durch eigene Räume. Denn anders als viele großstädtische Kunstinstitutionen hat der „Kunstraum“ in Varel kein Problem, mit seinen Programm aus Profi-, Laien- und auch Schüler:innen-Kunst ein verlässliches Publikum zu finden.

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