Demure is dead

Weil die Welt Sommerpause macht, analysieren Journalist_innen jetzt Internettrends: So wie den Begriff „demure“, der gerade Wellen schlägt. Dabei ist nichts daran neu

Sehen scheiße aus und versteht man nicht: surreale Gen Z Memes Foto: Abbildungen: Gen Z

Von Valérie Catil

Dazu müssen wir unbedingt was machen!“ Im Sommer, wo alle im Urlaub sind und in der Welt nicht viel passiert, hört man diesen Satz in Redaktionen regelmäßig. Und dann wird jedes noch so kleine Thema auf Verwertbarkeit überprüft und aufgebläht. So auch das Wort demure, das Journalist_innen unbedingt verstehen wollen. Dabei gibt’s an dem Wort nichts Neues; und überhaupt haben demure jetzt schon alle satt. Dennoch gibt uns das Wort einen Einblick in Gen-Z-Memes.

Was heißt also dieses demure und warum benutzen alle das Wort auf einmal? Am 5. August postet die Tiktokerin Jools Lebron ein, wie sich herausstellen wird, lebensveränderndes Video auf ihrem Kanal. Sie sitzt im Auto, auf dem Weg zur Arbeit und sagt: „You see how I do my make up for work? Very demure. Very mindful.“ Also „Siehst du, wie ich mich für die Arbeit schminke? Sehr sittsam. Sehr achtsam.“

Jools Lebrons Clip hat mittlerweile 37 Millionen Ansichten und schlägt Wellen. Kim Kardashian filmt sich beim Schminken und zitiert dabei Lebron. Penn Badgely, der Schauspieler aus der Netflix-Serie „You“, zeigt sich am Set und beschreibt sich als „demure“ und „mindful“. Dito die weltberühmte Dragqueen RuPaul. Sie interviewte Jools Lebron zuletzt bei Jimmy Kimmel, einer US-Late-Night-Show. RuPaul fragt, wie Lebron auf das Wort gekommen sei. „Anscheinend traumatisieren Jobs im Einzelhandel derart, dass man anfängt, Worte wie ‚demure‘ zu sagen“, antwortet die Tiktokerin.

Einige Artikel interpretieren demure falsch als Aufruf zur Make-Up-Mäßigung. Oder als Gegenentwurf zum lauten und ungezogenen brat-Trend der vergangenen Wochen. Wer den Humor der Zoomer, also Gen Z, versteht, weiß aber, dass Lebrons Satz nicht ernst gemeint ist. Sich selbst als demure, also als sittsam oder zurückhaltend zu beschreiben, so selbstsicher und bissig wie es Lebron tut, ist das Gegenteil von demure.

Wenn Boomer oder Marken versuchen, Teil eines Internetphänomens zu sein, ist das sein Todesurteil

In einem CBS-Interview erklärt sie, dass sie damit gegen stereotype Hausfrau-Ästhetik stacheln wollte. Lebron ist Beauty-Influencerin aus Chicago, eine Transfrau und kann sich Dank ihres viralen Clips und den daraus folgenden Werbedeals die weitere Geschlechtsangleichung leisten. Gut für sie. Schlecht für uns, denn wir werden uns noch eine Weile mit dem Wort beschäftigen müssen, auch weil sämtliche Marken direkt auf den Trend aufgesprungen sind: Sie kommentieren unter dem Originalvideo und schreiben die Buzzwords in Werbeposts, um zu suggerieren, wie hip sie sind. Die ironische Distanz geht dabei natürlich verloren.

Wenn Boomer oder Marken versuchen, Teil eines Internetphänomens zu sein, ist das ohnehin mit großer Wahrscheinlichkeit sein Todesurteil. Bei brat mag das vielleicht noch geklappt haben, sogar für Kamala Harris, die mit dem Begriff für sich Wahlkampf machte. Aber gerade, weil es diese Trend-Word-Übersättigung gibt, ist demure eigentlich bereits beerdigt. „Ich kann es nicht mehr hören“, kommentieren User_innen auf Tiktok und Instagram jetzt schon. Also, lasst es ruhen!

Hinzu kommt, dass es absolut kein neues Phänomen ist, sich ironisch als zurückhaltend oder reserviert zu beschreiben. Vor wenigen Wochen noch trendete das Wort „nonchalant“ unter hauptsächlich US-Zoomern. Dann „Aura“, die durch ein Punktesystem beschrieben wird. Etwa wenn jemand stolpert, könnte ein Zoomer den peinlichen Vorfall mit „Minus 300 Aurapunkte“ kommentieren.

Der Linguist Adam Aleksic findet ein Beispiel für diesen idealisierten Zustand, reserviert zu sein, sogar schon 1529 im Werk „Il Cortegiano“ vom italienischen Grafen Baldassare Castiglione. Er führt das Konzept sprezzatura ein, das – wie demure – bedeutet, den Anschein von Mühelosigkeit zu erwecken. In Sekundärliteratur zu dem Werk wird sprezzatura – genau wie demure! – ironisch gedeutet. Aleksic erklärt weiter, dass das daran liege, wie absurd das soziale Konstrukt der Nonchalance überhaupt sei. Genau das merke man unvermeidbar, wenn man es dazu nutzt, sich oder andere zu beschreiben.

Was sagt uns „Il Cortegiano“ also? Alles wiederholt sich. Opfer wird zu NPC, Zicke zu brat, lässig zu demure und so weiter. Bis der nächste Trend um die Ecke kommt, den Boomer und andere Digital Immigrants (das Gegenteil von Natives) nicht verstehen. Ist doch normal, dass sich der Humor derer, die chronisch online sind, von dem der Älteren unterscheidet und in seiner Schnelllebigkeit kryptisch wird. Jeder Witz ist ein Code und oft gibt es gar keinen Witz. Teil derjenigen zu sein, die das verstehen, ist Witz genug. Deswegen können sich Memes wie ein einziger, surrealer Inside-Joke anfühlen. Wer mitmacht, sagt: Ich verstehe, was du meinst. Ich gehöre dazu. Und weil demure zugänglich ist, gelingt dem Trend der Durchbruch in die Außenwelt.

So wird es auch beim nächsten Wort sein. Etwa wenn überall „sprezz“, abgeleitet von sprezzatura, zu lesen sein wird. Zum Beispiel: „Der taz-Artikel über demure war gar nicht sprezz.“