Das Aufbegehren der Ränder

Radu Pavel Gheo verhandelt in „Disco Titanic“ mitreißend die Nachwehen des Jugoslawienkriegs aus rumänischer Sichtweise

Split, 1984: Präsident Tito wacht über das Geschehen Foto: Jonathan Blair/Corbis/getty images

Von Jens Uthoff

Drüben, nur wenige Kilometer von Temeswar (Timișoara) entfernt, herrscht ein anderer Takt, ein anderer Ton. Es riecht, klingt und schmeckt anders. Für den jungen Vlad, der aus der rumänischen Großstadt nahe der Grenze zu Jugoslawien stammt, ist das multikulturelle Nachbarland fast schon Westen. Vlad verehrt Rockbands wie Bijelo Dugme um Goran Bregović und Prljavo Kazalište, er schaut gern jugoslawisches Fernsehen, das westliche Sitcoms wie „‚Allo ’Allo!“ zeigt, er ist heiß auf Westprodukte: Adidas und Nikes, stonewashed Jeans, besser schmeckende Zigaretten. Es ist Ende der achtziger Jahre, Vlad ist in der Ceaușescu-Diktatur aufgewachsen, das Fernsehprogramm beschränkt sich dort wochentags auf zwei Stunden Propaganda. Westliche Popkultur existiert offiziell nicht, Lebensmittel sind knapp, Armut grassiert.

Vlad ist Protagonist des Romans „Disco Titanic“ von Radu Pavel Gheo. Es ist der erste Roman des rumänischen Schriftstellers, der auf Deutsch erscheint, im rumänischen Original wurde er 2016 veröffentlicht. Zwei Reisen stehen im Mittelpunkt der Erzählung: Einmal fährt Vlad kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 ins jugoslawische Split und erlebt dort mit einer Jugendgang einen traumhaften Sommer mit einem albtraumhaften Ende. Die Disco Titanic gab es wirklich in Split, der Tanzklub lag direkt an der Adria, die Ruine steht dort heute noch. Als Erwachsener fährt Vlad rund zwanzig Jahre später wieder in die nun kroatische Stadt, um die Jugenderlebnisse, die hier nicht gespoilert werden sollen, aufzuarbeiten.

Es ist eine Mischung aus Abenteuer-, Popkultur- und Geschichtsroman, die dem hierzulande leider noch unbekannten Autor Radu Pavel Gheo gelungen ist. Über die Figur Vlad wird zum einen die Geschichte Rumäniens erzählt: als Jugendlicher begehrt er gegen die brutale Ceaușescu-Diktatur auf, verunglimpft die Nationalhymne des Landes. Zugleich wird er von der Securitate angeworben und willigt gezwungenermaßen in die Mitarbeit ein, was sein Geheimnis bleiben soll. Bei der blutigen rumänischen Revolution im Dezember 1989 ist er dann wieder auf der Straße und kämpft gegen das Regime, wird dabei verletzt und kommt ins Krankenhaus. Zum anderen verhandelt der Autor Gheo den Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen, vor allem über die zweite Reise seines Protagonisten, auf der er die Narben der Jugoslawienkriege allerorts besichtigen kann.

Das Nebeneinander verschiedener Ethnien haben Jugoslawien und Rumänien gemein. Vlads Heimatregion, das Banat, wird einmal in Anspielung an eine weitere ehemals jugoslawische, dann serbische Band („Riblja čorba“) als „Fischsuppe“ bezeichnet. „Ethnisch ist das Banat wie das ganze Rumänien. Es ist eine Art Fischsuppe, in der von jedem etwas drin ist, aber egal, was du in den Topf tust – noch ein paar Serben, ein paar Oltenier oder Moldauer, zwei, drei Deut­sche für das Aroma, ein paar Ungarn als Gewürz und was du noch auftreiben kannst: Tschechen, Slowaken und Bulgaren – es bleibt trotzdem eine Fischsuppe“, heißt es da in einer Diskussion zwischen Vlad und einer Figur namens Radu Pavel Gheo – der Autor baut sich da auf angenehm beiläufige Weise in den Text ein.

Gheo ist im Örtchen Oravița im Banat geboren, er studierte Philologie in Timișoara, lebte zwischenzeitlich in Washington und heute wieder in Timișoara. Er war Mitglied der rumänischen Jugendschriftstellergruppe CLUB 8, die sich in den Neunzigern in der Stadt Iași formiert hatte. „Disco Titanic“ hat 2017 den Nationalpreis des rumänischen Literaturmagazins Observator Cultura gewonnen und war für andere nationale Preise in der Auswahl.

Es geht sehr viel um Zugehörigkeiten in „Disco Titanic“ – im Prinzip ist es ein identitätspolitischer Roman. Pars pro toto beschreibt ein bosnisch-muslimischer Cafébesitzer, auf den Vlad Ende der Achtziger in Sarajevo trifft, wie Herkunft und Religion in der Region immer schon Konfliktpotenzial bargen: „‚Wir sind Freunde und Verwandte. Wir heiraten untereinander, vergnügen uns und tanzen zu serbischer, kroatischer und zu unserer Musik. Wir gehen zu Wettkämpfen und betrinken uns zusammen. Auch ich trinke rakija‘, erwähnte Nedret stolz und senkte dabei die Stimme. ‚Aber passt auf: Nie­mand hier vergisst, dass er Serbe oder Bosnier oder orthodox oder katholisch ist. Dass er zu einem Viertel das eine oder zur Hälfte das andere ist. Das wissen alle sehr genau, sie merken es sich und geben es den Kindern weiter.‘“

Radu Pavel Gheo: „Disco Titanic“. Aus dem Rumänischen von Gundel Große und Miruna Bacali. Klak Verlag, Berlin 2024, 574 Seiten, 25 Euro

Aus Vlad wird später ein einigermaßen erfolgreicher Verleger, doch seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. So muss er auch mit seiner Frau und seinem Sohn nach Split reisen, um mit sich ins Reine zu kommen. Gheo verwebt gegen Ende kunstvoll die Story der Jugendgang und eines Todesfalls mit der Geschichte der ethnischen Konflikte im postjugoslawischen Raum. Auch die Grausamkeiten, die von serbischer und kroatischer Seite im Jugoslawienkrieg begangen wurden, greift er auf – eine Figur schildert, was sich Anfang der Neunziger im Militärgefängnis Lora in Split zutrug und wie die jeweiligen Seiten Kriegsgeschehnisse aufwiegen.

Radu Pavel Gheo gelingen glaubhafte und mitreißende Dialoge, auch die Beschreibungen sind sehr plastisch, dank ihnen kann man sowohl das alte Jugoslawien als auch das alte Rumänien erspüren. Auf einer höheren Ebene werden in dem Roman daueraktuelle Fragen des Regionalismus und Separatismus, des Aufbegehrens der Ränder gegen die Städte, der (Un-)Möglichkeit der Verständigung nach kriegerischen Katastrophen verhandelt. Einige wenige Nachlässigkeiten im Lektorat sind nur eine Randbemerkung wert, denn man liest diese mehr als 550 Seiten gebannt, insbesondere der Sound der Jugendlichen klingt auch in der deutschen Übersetzung nahbar und toll.