Ein Fest der Diversität

Olympia in Paris produziert Bilder, die welthaltiger sind als jede Nachrichtensendung. Dazu gehören die Körper und ihre Bedeckungen und das Staunen über die Leistung der anderen

Norwegens Grace Jacob Bullen gegen die Tunesierin Siwar Bouseta Foto: Eugene Hoshiko/ap

Von Jan Feddersen

Tag 15 dieser Olympischen Sommerspiele, auf dem Screen hat gerade das Freiwasserschwimmen der Männer begonnen. Ich gucke das zwei Stunden lang, am Ende gewinnt der ungarische Favorit, während der favorisierte Deutsche unter „ferner kraulten“ landet und die nicht so favorisierte Silbermedaille gewinnt.

Seit zwei Wochen erlebe ich puren Fernsehgenuss. Ich bin Sportnerd. Nehme niemanden ernst, der oder die da sagt: Ach, Sport geht mir am A*sch vorbei, und verachte alle, von denen ich höre: Ja, die Eröffnungsfeier!,um dann nach näherem Nachfragen festzustellen, dass sie die doch nur in den zusammenfassenden Nachrichten erlebt haben. Oder die sagen: Oh, ich gucke so gern dies und das, etwa ­Fußball, bei Weltmeisterschaften. Das sind Leute, die ein Glas immerhin leicht obergärigen Traubensafts für Wein halten möchten und glauben, damit schon an einer Frivolität teilzuhaben.

Ich gehöre zu den echten Bekloppten, die auf der Couch, auf dem PC oder im Smartphone Sportereignisse begleiten – immer live den Augenblick der Zeiten und Weiten, der Fehler und Aktionen des Über-sich-­Hinauswachsens ­genießend. Wenn in den Hauptkanälen ARD und ZDF gerade wieder Nachrichtensendungen die Olympiaberichterstattung zu unterbrechen drohen, wird in die Livemediathek umgeschaltet.

Sinneseindrücke sind möglich wie: Ach, Pakistaner können so weit den Speer werfen? Eine indonesische Kletterin fliegt in höchste Höhen? Ein Mann aus Senegal, Yves ­Bourhis sein Name, kämpft sich durchs Wildwasser? Toll, fast im Medaillenrang. Von morgens bis Mitternacht Fernseher einschalten – und Olympisches gucken. Dauerschleife überall, offiziell-politische Nachrichten bleiben im Blick, aber, sorry, sind nicht im Mittelpunkt.

Ich lege mich fest: Paris ist das schönste olympische TV-Fest aller Zeiten. Die Bilder der Stadt sind sensationell in Szene gesetzt, das Organisationsteam hat alles, abgesehen von gewissen Zeiteneinblendungen, die gelegentlich irrig ausfallen, in ein Konzept gegossen, das auch ein alternatives Herz erfreuen muss. Beispielsweise eröffneten ehemalige Sportler, nicht nur französische, die Wettkämpfe mit dem dreimaligen Klopfen mit einem Holzstab; Volunteers standen wie beim Triathlon auf einer der schmucken Brücken der Stadt und hielten ein Siegesband parat; und dann natürlich die Glocke im Olympiastadion, die die Siegerinnen* ihrer Disziplinen begongeln dürfen, die Namen der Goldmaillengewinnenden werden hernach eingraviert, die Glocke dann in der bald wieder zu eröffnende Kathedrale Notre-Dame aufgehängt.

Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, wie problematisch Olympische Spiele sind. Der Kapitalismus an sich, die Geldverschwendung, das Zelebrieren von Körperkult, die Gerüchte und Nachweise zur Korruption des IOC, Ausrichter des größten globalen Spektakels überhaupt, außerdem der Nationalismus, mindestens die nationalen Brillen, die zu bemeckern wären, vielleicht sogar sind. In Wahrheit aber ist mir das egal. Die gut 300 Medaillenwettbewerbe liefern ein Bild von der Welt, wie es sonst keine Nachrichtensendung vermag. Menschen, die so unterschiedlich aussehen, so unterschiedlich auf Siege und Niederlagen reagieren. Alle haben sie sich angestrengt, um beim Fest der körperlichen Anstrengungen schlechthin dabei zu sein. Dass dieses Event den Beweis erbringt, eines der Geschlechterparität zu sein, und dass das Kritteln an Kopftuchfrauen oder am Fehlen der religiösen Kopfbedeckung keine Wahrnehmungshaken von Empörung oder Aufregung mehr bieten: beeindruckend.

Siebenkämpferin Taliyah Brooks beim Hochsprung Foto: Dylan Martinez/reuters

Olympia in Paris – das ist auch ein Panoptikum der Welt. Wir sehen zwar immer nur Ausschnitte, aber die haben mehr Welthaltigkeit als die strukturell immer kummervollen Beiträge in politischen Sendungen.

Im Übrigen, weil beim Schrei­ben dieses Textes nebenbei ein Tischtennismatch mit dem jungen Franzosen Félix ­Lebrun läuft: Volle Sixpacks bieten körperlich nun echt nicht alle, kleine bis große unstraffe Bäuche stehen Medaillenträumen nicht im Weg.

Die Australierin Arisa Trew im Skateboardfinale Foto: Frank Franklin/ap

Olympische Spiele sind wie Drogen auch bei der Rezipientenschar. Man nimmt Anteil an Stars und Sternchen, ­Simone ­Biles, Malaika Mihambo oder dem deutschen Schwergewichtsboxer Nelvia Tiafack aus Köln, der erst vor wenigen Jahren mit Mutter und Vater aus der alten Heimat fliehen konnte, der in Köln lebt und offenbar längst diese gewisse rheinischen Neigung zum Frohsinn versprüht. Die Bronzemedaille zu gewinnen war heldisch, und wir hatten Anteil an seiner Geschichte, die mehr über das Deutschland von morgen aussagt als die gestrauchelten Hockeymänner, die, schnöselig sich allen überlegen wähnend, von den ­Niederländern bezwungen wurden.

Mithin sind auch diese Spiele Bildersequenzen von einer Welt, wie sie sein könnte. Kompetitiv, im regelbasierten, nichtkriegerischen Fight mit- und gegen­einander. Eine utopiesättigende Sehlust. Am Sonntagabend ist damit leider Schluss. Olympia zu Ende. Einzig die Aussicht auf die Olympischen Winterspiele 2026 in Mailand kann darüber hinweghelfen.